Haben Sie gegenüber einer Familie schon einmal starke innere Abscheu verspürt? Kennen Sie Gefühle der Ablehnung, Anflüge von Ärger oder gar Spuren von Hass, die Mütter oder Väter in Ihnen auslösen? Zum Selbstverständnis von engagierten Sozialarbeitenden und Psychosozialen Helfern scheinen ablehnende Gefühle gegenüber Klienten auf den ersten Blick nicht zu passen. Um gute Arbeitsbeziehungen zu fördern, geben sich Sozialarbeitende in ihrer Arbeitshaltung offen und ehrlich interessiert, stellen Fragen zu Wünschen und Vorstellungen von Klienten und zeigen Verständnis und Mitgefühl für deren Probleme.
In meinem letzten Blogbeitrag habe ich dargelegt, dass ein Psychoanalytisches Fallverstehen auf der Annahme basiert, dass Krankheit und Gesundheit, Abweichung und Normalität sowie Einschränkungen und Selbstständigkeit als Spektren mit fließenden Übergängen zu verstehen sind. Darauf aufbauend kann der Unterstützungsbedarf von Klienten als das Maß an Eigenständigkeit gedacht werden, das eine Lebenspraxis vor dem Hintergrund ihrer Belastungsgeschichte erreicht hat. Die Aufgabe professioneller Interventionen besteht dann darin, die normalen, gesunden und selbstständigen Anteile von Klienten zu erkennen und zu fördern. Diese Perspektive ist auch direkt anschlussfähig zu Systemisch-lösungsorientierten Interventionen, die in der Sozialen Arbeit in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen haben. Eine Grundannahme Systemischer Handlungsansätze ist die Kontextualisierung von Verhaltensweisen: „Aus systemischer Sicht stellt ein Problemverhalten stets ein Lösungsverhalten dar. Eine wichtige systemische Prämisse stellt nämlich die Betrachtung dar, dass das, was Menschen tun, in ihrem jeweiligen Kontext einen Sinn machen.“ (Conen 2023: 266) Durch diesen Perspektivwechsel wird es möglich einen Zugang zu verstörenden Verhaltensweisen zu entwickeln und übersehene Motive, Ressourcen und Bewältigungskompetenzen von Klienten in den Blick zu nehmen. Eine solche lösungsorientierte Sichtweise auf Klienten kann jedoch schnell an Grenzen geraten, wenn Klienten beispielsweise gewalttätiges Verhalten gegenüber Fachkräften zeigen oder wenn in Kinderschutzfällen Eltern die emotionalen Nöte und affektiven Regulationsbedürfnisse von Kleinkindern massiv ignorieren.
Stellen sie sich einmal kurz die folgende Szene vor, die ich bei einem Hausbesuch im Rahmen einer Familienhilfe vor einigen Jahren miterlebt:
Ein zweieinhalbjähriges Kind kehrt mit seinem Vater nach Hause zurück. Beide gehen durch die Wohnungstür und der Sohn setzt sich auf einen Stuhl, um sich auszuziehen. Der Sohn fragt, ob der Vater ihm helfen könne. Der Vater öffnet den Reißverschluss der Jacke des Sohnes und hilft diesem beim Ausziehen der Jacke. Die Stimmung des Sohnes springt plötzlich um. Er beginnt zu weinen, sagt, dass die Jacke wieder angezogen werden solle und er wieder rausgehen wolle. Der Vater verneint dies, woraufhin der Junge wütend schreit „Doch, rausgehen! Doch, rausgehen!“. Der Vater reagiert nun selbst wütend und ruft aus: „Ich habe die Schnauze voll von Deinen Mätzchen. Jeden Tag rastest du wegen irgendwas aus. Deine Scheisse kotzt mich richtig an.“ Die Szene schaukelt sich weiter hoch. Der Sohn wird wiederum wütender und brüllt: „Doch, Papa, doch! Anziehen und Rausgehen. Doch Papa, Doch!“ Der Vater zieht seine Schuhe aus, wirft diese wutentbrannt gegen die Tür, während er sagt: „Diese Scheisse kotzt mich an. Ich dreh echt durch“. Er lässt den Sohn schließlich stehen, geht in die Küche und trinkt ein Glas Wasser.
Ich erinnere mich, dass ich mich über den Vater ärgerte. Mich ärgerte, dass der Vater durch seinen eigenen Wutanfall die emotionale Unterstützung seines Sohnes völlig aus den Augen verloren hatte statt ruhig, gelassen und co-regulierend zu agieren. Mir schien, dass es leicht gewesen wäre den emotionalen Ausbruch des Jungen als alterstypische Wutattacke im Ringen um Autonomie und Kontrolle der Situation einzuordnen und gelassen zu bleiben. Das der Vater mit seiner eigenen emotionalen Reaktion das Gegenteil bewirkte und so schnell miteskalierte, ließ mich wütend zurück.
Unter Bezugnahme auf das Psychoanalytische Konzept von Übertragung und Gegenübertragung (vgl. May 2010: 214 ff.) ließe sich meine emotionale Reaktion durchaus lebendiges Gegenübertragungsgefühl verstehen. Als Teilnehmer der Szene fand die aggressive Stimmung einen Widerschein in meinem inneren Ärger. Externalisierende Gefühlsreaktionen und Verhaltensweisen von Klienten wie Wut und Aggression können sogenannte konkordante Gegenübertragungsreaktionen in Fachkräften wecken, die dann Wut, Aggression oder gar Haß gegen die Klienten empfinden (vgl. Langnickel et al. 2023: 6 f.). Die beschriebene Szene ist mir jedoch vor allem deshalb eingefallen, weil ich als Vater eines bald Dreijährigen Szenen explosiver Wutattacken und Aggressionsausbrüche sehr regelmäßig erlebe. In meinem Inneren spüre ich in diesen Situationen häufig eine große Wut auf meinen Sohn und habe das Gefühl, dass mich mein Sohn, wie man so sagt, ‚an den Rand des Wahnsinns treibt‘.
Alle Eltern kennen solche Momente und wissen aus eigener persönlicher Erfahrung wie anstrengend diese sind. Ich glaube, dass unser Erfahrungswissens als Eltern für uns als Profis nützlich ist, um verstörende Verhaltensweisen von Kindern, Jugendlichen und Eltern emotional besser zu verstehen. Dies setzt jedoch voraus, dass wir uns eigener herausfordernder Erfahrungen als Eltern und damit verbundener unangenehmer Gefühle bewusst erinnern. Die Intensität der beschriebenen Szene, die Heftigkeit der Wut des Kindes, der Reiz der Impulsivität für den Erwachsenen und die enormen Anforderungen an die Selbstkontrolle für Eltern – all dies verstehe ich erst umfassend, seit ich Vater eines kleinen Sohnes bin, der mich selbst in solche Grenzsituationen bringt.
An dieser Stelle zeigt sich die doppelte Bedeutung der Annahme des fließenden Überganges zwischen Anpassung und Störung, Normalität und Abweichung, Gesundheit und Krankheit im Rahmen eines psychoanalytisch orientierten Fallverstehens: als Profis sind wir nicht nur dazu angehalten auf die angepassten, normalen und gesunden Anteile unserer Klienten zu fokussieren und diese zu stärken. Um dies kompetent und einfühlsam zu tun, ist es hilfreich, wenn wir uns klarmachen, dass wir selbst Teil des Spektrums sind. Wir tragen Impulse und Tendenzen zerstörerischer Wut und heftigen Ärgers in uns und kommen etwa in Streitigkeiten mit unseren Kindern, Partnern und Eltern mit ihnen in einen inneren Kontakt. In Grenzsituationen wird es zudem sogar auch mal vorkommen, dass wir unser Kind oder unseren Partner streng oder scharf anfahren. Die Scham und die Schuld, die wir darüber empfinden und die uns dazu drängt, uns zu entschuldigen und die Situation zu klären, ist eine bedeutsame persönliche Erfahrungsquelle, die das Verstehen von Klienten in vergleichbaren Situationen erleichtern und eine Spur zu deren oftmals verborgenen Empfindungen eröffnen kann.
Literaturverzeichnis
Conen, Marie-Luise (2023): Aufsuchende Erziehungshilfen in Not – ein Zwischenruf. In: Forum Erziehungshilfen 29 (5), S. 265–267.
Langnickel, Robert; Behringer, Noëlle; Link, Pierre-Carl (2023): Logiken von gesprengten und sprengenden Systemen. In: GISo 4 (1). DOI: 10.26043/GISo.2023.1.5.