Inobhutnahme (ION) 2030: Professionalisierungsbedarfe von ION-Einrichtungen vor dem Hintergrund eines belasteten Kinder- und Jugendhilfesystems – Beitragsserie Teil 5: Professionelles Handeln zwischen Entscheidungsoffenheit und Risikoaversion in kritischen Hilfeverläufen

Sozialarbeitende verfügen über vielfältige ökonomische, rechtliche und beraterische Ressourcen, um die Lebenslagen ihrer Klienten positiv zu beeinflussen. Die Identifikation von Risiken und das Einschätzen von Gefährdungen gehören zu den wesentlichen Merkmalen des professionellen Handelns, insbesondere im fallbezogenen Kinderschutz (Ackermann 2021; Dahmen 2021; Hensen und Schone 2009; Mörsberger und Restemeyer 1997). Dabei ist insbesondere die Feststellung fehlender Sicherheit eines Heranwachsenden im Sinne der konkreten Erwartbarkeit einer schwerwiegenden Schädigung ausschlaggebend, um eine ION auch gegen den Willen von Eltern durchzusetzen (Bastian et al. 2017; Möller 2018). In komplexen und damit offenen Fallkonstellationen zeigt sich jedoch, dass Sozialarbeitende dazu neigen Lösungsperspektiven zu beschränken. Statt die Klienten konsequent zu beteiligen und damit die größtmögliche Vielfalt und Qualität an Handlungsoptionen zu generieren, werden das Mitwissen und die Initiative der Klienten ausgeklammert oder Handlungsoptionen auf das Machbare beschränkt, um Risiken zu vermeiden (Schütze 1992: 157 ff.).

Bei langen IONs von Jugendlichen mit komplexen Problemlagen zeigt sich oftmals das paradoxe Phänomen, dass die Unterbringung in Notdiensten, die der Sicherheit der Jugendlichen dienen soll zugleich von Gefährdungen durch das Risikoverhalten der Jugendlichen (u.a. Abgängigkeit, Straffälligkeit, Substanzmittelkonsum und gefährlichen Kontakten zu Erwachsenen) begleitet ist. Bei den beteiligten Hilfeakteuren entsteht dabei häufig notgedrungen ein Absicherungsdenken. Man ist froh darüber die Jugendlichen formal sicher zu wissen, obwohl die Fallverläufe in der Kriseneinrichtung selbst deutliche Gefährdungsaspekte aufweisen. Die Folge ist, dass mit dem immer längeren Aufenthalt im Notdienst die Exklusionsrisiken für diese Jugendlichen steigen, weil es immer schwieriger wird eine Anschlusshilfe zu finden. Stehen dem fallsteuernden Jugendamt jedoch keine kreativen Ressourcen zur Verfügung, um eine geeignete Hilfe für diese Jugendlichen zu entwerfen, werden mitunter mehrere hundert Fallanfragen bei stationären Hilfen mit wenig Aussicht gestellt und die ION zieht ich immer weiter in die Länge. Kreativen Lösungsperspektiven stehen neben finanziellen Restriktionen häufig auch Sicherheitsgedanken selbst im Weg. So veranschaulichen die Praxisbeschreibungen zur Fallsteuerung in komplexen Fällen von Matthias Lindner (Lindner 2023: 238 ff.) wie Sozialarbeitende in Jugendämtern das Risiko des Substanzkonsums von Jugendlichen oftmals nicht verantworten wollen, die Finanzierung einer verfügbaren Wohnung ablehnen und stattdessen eine nochmalige stationäre Hilfe in einem Regelsetting veranlassen aus der die Jugendlichen nach kurzer Zeit erneut fliegen, um schließlich auf der Straße zu landen. Kehren diese Jugendliche zum wiederholten Male in die Notdienste zurück, steigern sich in den Helfersystemen Überforderung, Resignation und Hilflosigkeit.

Wie können Sozialarbeitende bei der Arbeit mit Jugendlichen in der ION eine größere Entscheidungs- und Interventionsoffenheit erreichen?

Fachkräfte müssen sich zunächst nochmals klar vor Augen führen, dass Jugendliche mit komplexen Hilfebedarfen zusätzlich zu häufigen Traumatisierungen in der Kindheit oftmals eine lange Jugendhilfekarriere aufweisen, die von häufigen Personen- und Ortwechseln mit Beziehungsabbrüchen geprägt ist (Kölch et al. 2021). Die Erfahrung von stabiler Instabilität der Lebensverhältnisse ist oftmals eine Fortführung von Erfahrungen der frühen Kindheit und prägt die Biografie dieser Jugendlichen. In einem solchen Erfahrungshorizont fungieren Autonomie und Eigensinn als wichtige Überlebensstrategien, da die Jugendlichen erlernen mussten, dass sie sich (zumeist) nur auf sich selbst verlassen können. Sozialarbeitende sollten sich deshalb bei der Arbeit mit diesen Jugendlichen unbedingt auf deren Eigensinn einlassen, die Jugendlichen zu eigenen Entscheidungen ermuntern und dabei vor allem ein authentisches Gesprächsangebot für den Austausch zu negativen Erfahrungen und Erlebnissen anbieten. Wenn korrigierende, haltgebende Beziehungserfahrungen ein wichtiger Bestandteil der professionellen Arbeit mit Systemsprenger:Innen ist (vgl. Gebrande 2021: 165 ff.), dann ist die Erfahrung Fehler machen zu dürfen und über diese mit einer Vertrauensperson sprechen zu können, eine wichtige potentiell korrigierende Erfahrung für diese Jugendlichen.

Literatur

Ackermann, Timo (2021): Risikoeinschätzungsinstrumente und professionelles Handeln im Kinderschutz. Wie Sozialarbeiter_innen mit „Kinderschutzbögen“ interagieren und was das mit Professionalität zu tun hat. In: Sozial Extra (1), S. 42–48.

Bastian, Pascal; Freres, Katharina; Schrödter, Mark (2017): Risiko und Sicherheit als Orientierung im Kinderschutz. Deutschland und USA im Vergleich. In: Soz Passagen 9 (2), S. 245–261. DOI: 10.1007/s12592-017-0277-y.

Dahmen, Stephan (2021): Risikoeinschätzungsinstrumente im Kinderschutz. In: Sozial Extra (1), S. 36–41.

Gebrande, Julia (2021): Traumapädagogik für Kinder, die das System sonst sprengt (oder Traumapädagogik für Systemsprenger*innen). In: Daniel Kieslinger, Marc Dressel und Ralph Haar (Hg.): Systemsprenger*innen. Ressourcenorientierte Ansätze zu einer defizitären Begrifflichkeit. 1. Auflage. Freiburg: Lambertus Verlag (Beiträge zur Erziehungshilfe, 49), S. 159–173.

Hensen, Gregor; Schone, Reinhold (2009): Familie als Risiko? Zur funktionalen Kategorisierung von ‚Risikofamilien‘ in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Christof Beckmann, Hans-Uwe Otto, Martin Richter und Mark Schrödter (Hg.): Neue Familialität als Herausforderung der Jugendhilfe. Lahnstein: Verlag neue praxis GmbH (Sonderheft, 9), S. 149–159.

Kölch, Michael; Schmid, Marc; Bienioschek, Stefanie (2021): „Systemsprenger*innen“ – Kinder- und jugendpsychiatrische und -psychotherapeutische Perspektive zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie. In: Daniel Kieslinger, Marc Dressel und Ralph Haar (Hg.): Systemsprenger*innen. Ressourcenorientierte Ansätze zu einer defizitären Begrifflichkeit. 1. Auflage. Freiburg: Lambertus Verlag (Beiträge zur Erziehungshilfe, 49), S. 231–250.

Lindner, Matthias (2023): „Sie wollen ein solches Verhalten doch wohl nich mit einer eigenen Wohnung belohnen?!“ – Pädagogische Haltung und Kooperation bei der Betreuung von Systemsprenger:innen. In: Gunter Groen und Jack Weber (Hg.): Krisenhafte Verläufe in den Erziehungshilfen. Kooperationen, Risikopartnerschaften, Verantwortungsgemeinschaften. Weinheim: Beltz Verlagsgruppe, S. 234–244.

Möller, Hendrik (2018): Gefahr, Gefährdung, Risiko – Zur normativen und inhatlichen Differenzierung der Gefährdungsbegriffe in § 8a SGB VIII und § 1666 BGB. In: Widersprüche 38 (149), S. 17–26.

Mörsberger, Thomas; Restemeyer, Jürgen (Hg.) (1997): Helfen mit Risiko. Zur Pflichtenstellung des Jugendamtes bei Kindesvernachlässigung ; Dokumentation eines Strafverfahrens gegen eine Sozialarbeiterin in Osnabrück. Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand.

Schütze, Fritz (1992): Sozialarbeit als „bescheidene“ Profession. In: Bernd Dewe (Hg.): Erziehen Als Profession. Zur Logik Professionellen Handelns in Pädagogischen Feldern. Unter Mitarbeit von Wilfried Ferchhoff und Frank-Olaf Radtke. Wiesbaden: VS Verlag fur Sozialwissenschaften GmbH, S. 132–170.

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