Inobhutnahme (ION) 2030: Professionalisierungsbedarfe von ION-Einrichtungen vor dem Hintergrund eines belasteten Kinder- und Jugendhilfesystems – Beitragsserie Teil 3: Professionelles Handeln zwischen geduldigem Abwarten und sofortiger Intervention

Mit methodischen Bearbeitungsverfahren wie Beratung, Versorgung und Krisenintervention verfügen professionelle Helfer über wirkungsvolle Arbeitsmittel, um auf die Problementwicklung ihrer Klienten einzuwirken. Dabei müssen Sozialarbeitende Fallverläufe fortwährend analysieren und zwischen geduldigem Abwarten und schneller Intervention abwägen, um fallgünstige Zeitpunkte für Interventionen auszuwählen und Maßnahmen gezielt umzusetzen (Schütze 1992: 150 ff.). Diese Abwägung weist einen deutlichen Unsicherheitshorizont auf, weil professionelle Helfer einerseits gemäß der Selbsthilfepotenziale ihrer Klienten eine „natürliche“ Entschärfung der Probleme antizipieren und fördern wollen und sollen, sowie andererseits zugleich aufgrund von Fachwissen und Praxiserfahrung prognostisch das Eintreten von Schädigungen der Klienten abzuschätzen und zu vermeiden beabsichtigen (Schütze 1996: 193 ff).

In langfristigen Fällen mit komplexen Verlaufskurven stellen sich dabei notwendig Fehler ein, wenn professionelle Helfer eine problematische Fallentwicklung, z.B. auch durch hohes Arbeitslaufkommen bei anderen Fällen übersehen oder umgekehrt aus der Erwartung eines Schadens frühzeitig massiv intervenieren und damit selbst wiederum Krisen und unerwartete Folgeprobleme auslösen. Gerade die Arbeit im Kinderschutz stellt ein professionelles Handlungsfeld dar, indem Fachkräfte eine ständige Gratwanderung zwischen zu frühem und zu spätem Eingreifen sowie zu viel und zu wenig Intervention vollziehen müssen (Biesel et al. 2020: 411 ff.; Klatetzki 2020).

In der Arbeit mit Jugendlichen im Kontext von langen Inobhutnahmen entfaltet sich diese Interventionsparadoxie deutlich verschärft. Für Jugendliche mit komplexen Hilfebedarfen (u.a. Einzelbetreuung, engmaschige Alltagsanleitung, psychosoziale Versorgung und Stabilisierung) stellen längere Aufenthalte in Notdiensten häufig eine (aufgrund des Mangels an Unterbringungsalternativen schwer vermeidbare) Form der institutionellen Kindeswohlgefährdung dar. Die Sozialarbeitenden in den Notdiensten werden geneigt sein, die Ungeeignetheit der Hilfe und die Unterversorgung der Jugendlichen in der ION gegenüber Vormündern und ASDs deutlich zu adressieren und auf die Notwendigkeit einer schnellen Überführung in eine geeignete Hilfe zu verweisen. Andererseits zeigen Jugendliche häufig zunächst angepasstes Verhalten, sodass die beteiligten Helfer eher die natürliche Fallentwicklung abwarten, auch um etwas Zeit für die Perspektivklärung zu gewinnen. Diese Konstellation aus Interventionswunsch und (un)geduldigem Abwarten zwischen Helfern und Jugendlichen aber auch unter den Helfern selbst hält sich im frühen ION-Verlauf zunächst die Waage. Verschlechtert sich im ION-Verlauf die psychosoziale Situation von Jugendlichen, sichtbar etwa an Fehlzeiten in der Schule, Drogenkonsum, nächtlicher Abgängigkeit oder sexuellem Risikoverhalten, werden die Sozialarbeitenden in den Notdiensten den Druck auf den fallzuständigen ASD erhöhen. Kommt es im weiteren ION-Verlauf zu Krisen und Eskalationen und wiederholen sich diese Dynamiken stellt sich mitunter ein Muster ein, dass durch das Wechselspiel von aktionistischen Interventionsforderungen und ignorantem Abwarten gekennzeichnet ist. Jede neue Krise von Jugendlichen innerhalb der ION, z.B. in Form von Übergriffen oder Sachbeschädigung, aktiviert dabei potenziell Alarmismus und wechselseitiges Druckmachen innerhalb des Helfersystems. Zwischen den Krisen ruht dagegen häufig die Krisenkommunikation im Helfersystem, während die Jugendlichen mit komplexen Hilfebedarfen, gerade wenn sie einen schlechten Tag-Nacht-Rhythmus haben, weiterhin psychisch belastet und regelmäßig abgängig sind oder die Anbindung an Schule fehlt, unter dem minimalen Betreuungssetting des Notdienstes eher in den Tag hineinleben. In dieser Form mäandern lange IONs pendelnd zwischen Krise und akuten Eingriffswünschen einerseits und Laufenlassen und (un)geduldigem Abwarten andererseits weiter, bis ein Übergang von Jugendlichen in eine Anschlusshilfe gelingt, was regelmäßig mehrere Monate dauern kann.

Wie können professionelle Helfer den Kreislauf aus akutkrisenhaftem Interventionswunsch und (un)geduldigem Abwarten verlassen und die verschärfte Paradoxie professionell bewältigen?

Wenn lange IONs bei Jugendlichen mit komplexen Hilfebedarfen unweigerlich zu problematischen Verläufen führen, ist es wichtig zuverlässig als starker Partner und Begleiter an der Seite er Jugendlichen zu stehen und als echter Ansprechpartner für ihre Themen, Probleme und Belastungen aufzutreten. Fallarbeit in Arbeitsbündnissen ist eine koproduktiv-interaktive Leistung (Büchner 2015; Messmer und Hitzler 2011) und muss gerade in der ION hart erarbeitet werden. Jugendliche haben ein feines Gespür dafür, ob professionelle Helfer ernsthaft auf ihre Bedürfnisse und Belastungen eingehen. Passen die Anliegen der Jugendlichen und die Angebote der Helfer nicht zusammen, werden sich Jugendliche eher innerlich zurückziehen, eigene Probleme verbergen oder die Helfer absichtlich nicht mit ihren Themen belasten (Romanowski-Kirchner 2023: 4 ff.; Schmidt et al. 2023: 3 ff.).

Literatur

Biesel, Kay; Meysen, Thomas; Schrapper, Christian (2020): Über den Umgang mit Fehlern im Kinderschutz. In: Neue Praxis 50 (5), S. 409–425.

Büchner, Stefanie (2015): Fehler im System. Die dunkle Seite der Fehlerfokussierung. In: Forum für Kinder und Jugendarbeit (1), S. 22–27.

Klatetzki, Thomas (2020): Der Umgang mit Fehlern im Kinderschutz – eine kritische Betrachtung. In: Neue Praxis 20 (2), S. 101–121.

Messmer, Heinz; Hitzler, Sarah (2011): Interaktion und Kommunikation in der Sozialen Arbeit. Fallstudien zum Hilfeplangespräch. In: Gertrud Oelerich und Hans-Uwe Otto (Hg.): Empirische Forschung und Soziale Arbeit. Ein Studienbuch. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Wiesbaden, S. 51–64.

Romanowski-Kirchner, Christopher (2023): Zwischen inneren Krisen und „Normalität im Leben“. In: GISo 4 (1). DOI: 10.26043/GISo.2023.1.2.

Schmidt, Sabrina; Gietz, Lea; Prangenberg, Natalie; Wen, Sebastian (2023): „also war halt auch immer so ‚Hallo‘ und dann so bald ‚Tschüss‘“. In: GISo 4 (1). DOI: 10.26043/GISo.2023.1.4.

Schütze, Fritz (1992): Sozialarbeit als „bescheidene“ Profession. In: Bernd Dewe (Hg.): Erziehen Als Profession. Zur Logik Professionellen Handelns in Pädagogischen Feldern. Unter Mitarbeit von Wilfried Ferchhoff und Frank-Olaf Radtke. Wiesbaden: VS Verlag fur Sozialwissenschaften GmbH, S. 132–170.

Schütze, Fritz (1996): Organisationszwänge und hoheitsstaatliche Rahmenbedingungen im Sozialwesen: Ihre Auswirkungen auf die Paradoxien des professionellen Handelns. In: Arno Combe und Werner Helsper (Hg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. 9. Auflage 2017. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1230), S. 183–275.

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