Inobhutnahme (ION) 2030: Professionalisierungsbedarfe von ION-Einrichtungen vor dem Hintergrund eines belasteten Kinder- und Jugendhilfesystems – Beitragsserie Teil 2: Professionelles Handeln in allgemeinen und besonderen Fallverläufen

Sozialarbeitende besitzen allgemeine Fachkenntnisse zu erwartbaren Fallentwicklungen und Verlaufsdynamiken in Hilfeprozessen, die sich aus Aspekten wie u.a. materieller Lebenslage, biografischen Erfahrungen, Hilfewirkungen und individuellen Ressourcen der Klienten ergeben. Gleichzeitig ergeben diese Aspekte in ihrem Zusammenspiel sowie in Verbindung mit den spezifischen Merkmalen des jeweiligen Falles ein so komplexes Bild, dass eine generelle Prognose eines positiven oder negativen Fallverlaufes schwer realisierbar ist (Schütze 1992: 150). Professionelle Sozialarbeitende sind in ihrer Praxis damit vor die Herausforderung gestellt immer wieder allgemeine und individuelle Facetten der Verlaufskurven ihrer Fälle zu eruieren, abzuwägen und zu vermitteln.

Insbesondere bei komplexen Fallverläufen, die besonderer professioneller Zuwendung und intensiver Fallarbeit bedürfen, neigen Sozialarbeitende teilweise zu Frustration und Rückzug, die sich in Zynismus und der Verurteilung der Verantwortungslosigkeit der Klienten ausdrücken können (Schütze 1996: 220 ff.). IONs von Jugendlichen mit komplexen Hilfebedarfen, langen Aufenthalten und kritischen Hilfeverläufen sind geradezu prädestiniert dazu bei professionellen Fachkräften Unmut zu produzieren, da sich die Fallverläufe in der ION scheinbar immer ähneln: nach einer gewissen Zeit gehen die Jugendlichen nicht zur Schule (falls überhaupt eine Anbindung an die Schule besteht), stehen morgens nicht auf, nehmen unregelmäßig an Mahlzeiten teil, sind nachts abgängig, nehmen ihre Medikamente nicht ein, geraten in verbale und körperliche Konflikte untereinander, produzieren gewalttätige Eskalationen mit dem sozialpädagogischen Personal, zerstören Einrichtungsgegenstände, begeben sich an gefährliche Orte und begehen Straftaten u.v.m..

Da Fallverläufe dieser Art in ION-Einrichtungen in den letzten Jahren deutlich zu genommen haben (vgl. Eßler et al. 2022), besteht eine Tendenz der Fachkräfte zu einer negativen Fallverlaufserwartung. Um es in Abwandlung eines Sprichwortes auszudrücken: bei langen IONs werden scheinbar alle Katzen grau, früher oder später. Ist diese Erwartung unter Fachkräften etabliert und chronifiziert, gerät jeder neue problematische Fallverlauf in der ION zur Bestätigung dessen, was man schon vorher pessimistisch antizipierte. Die Verantwortung für Verhaltensprobleme wird dabei mitunter schnell den Jugendlichen zugeschrieben, die aufgrund von fehlender Motivation, Lustlosigkeit und einem Mangel an Respekt Hilfeangebote ausschlagen und die ION-Einrichtung scheinbar bloß als Schlafplatz nutzen würden. In Bezug auf die Spannung zwischen Allgemeinheit und Spezifität von Fallverlaufsentwicklungen droht dann eine einseitige Auflösung in Richtung Verallgemeinerung. Damit geht tendenziell eine Problemfokussierung einher, die bei den Jugendlichen Quellen des Wohlbefindens, individuelle Ressourcen und Resilienzen sowie gelingende Interventionsmöglichkeiten eher übersieht oder gar ausblendet. 

Eine mögliche Erklärung für diese Vereinseitigungstendenz könnte sein, dass die verschiedenen Wissensstrukturen, die das Handeln professioneller Helfer fundieren ihre produktive Spannung verlieren. Das Fallwissen, verstanden als Wissensmix, der sich aus u.a. wissenschaftlichem Grundlagen- und Handlungswissen (Sommerfeld 2013: 161 ff.), institutionellem Kontextwissen, Praxiswissen und Erfahrungswissen speist (Messmer 2017), kriegt dann eine Schlagseite. Statt den Fall mit diesen verschiedenen Wissensperspektiven in seinen besonderen Merkmalen zu erschließen und dabei unbedingt die Sicht der Klienten einzubeziehen (Becker-Lenz und Müller-Hermann 2023: 123 ff.), wird den Klienten ein allgemeines Korsett übergestülpt. Und dies geschieht tendenziell umso mehr, je stärker sich etwa Jugendliche Hilfevorschlägen scheinbar entziehen oder diese ablehnen.

Wie können Sozialarbeitende in der ION die spezifisch-individuelle Fallverlaufsentwicklung refokussieren?

Professionelle Helfer sollten sich für die Besonderheiten und Individualitäten der Jugendlichen interessieren, besondere Neigungen wie Lieblingsessen, (alte) Hobbys und (verschüttete) Talente mit den Jugendlichen herausarbeiten und nach Wegen suchen diese in der ION zu fördern. Die Helfer können Ängste und Sorgen der Jugendlichen in regelmäßigen Gesprächen erfragen, diese ernst nehmen und gemeinsam mit ihnen nach konstruktiveren Wegen der Bewältigung suchen und den nötigen Mut fördern diese zu erproben.

Literaturverzeichnis

Becker-Lenz, Roland; Müller-Hermann, Silke (2023): Jenseits wissenschaftlichen Wissens – Wissensarten und Professionalität. In: Michaela Köttig, Sonja Kubisch und Christian Spatscheck (Hg.): Geteiltes Wissen – Wissensentwicklung in Disziplin und Profession Sozialer Arbeit. Leverkusen: Verlag Barbara Budrich (Theorie, Forschung und Praxis der Sozialen Arbeit), S. 121–135.

Eßler, Robin; Hipke, Felix; Kurtz, Vivien (2022): Lange Verweildauern: Ein Problemaufriss zur aktuellen Situation in Inobhutnahme-Einrichtungen. In: Fachgruppe Inobhutnahme (Hg.): Handbuch Inobhutnahme. Grundlagen – Praxis und Methoden – Spannungsfelder. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Regensburg: Walhalla Fachverlag (Praxis und Forschung), S. 428–440.

Messmer, Heinz (Hg.) (2017): Fallwissen. Wissensgebrauch in Praxiskontexten der Sozialen Arbeit. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich. Online verfügbar unter https://elibrary.utb.de/doi/book/10.3224/9783847409045.

Schütze, Fritz (1992): Sozialarbeit als „bescheidene“ Profession. In: Bernd Dewe (Hg.): Erziehen Als Profession. Zur Logik Professionellen Handelns in Pädagogischen Feldern. Unter Mitarbeit von Wilfried Ferchhoff und Frank-Olaf Radtke. Wiesbaden: VS Verlag fur Sozialwissenschaften GmbH, S. 132–170.

Schütze, Fritz (1996): Organisationszwänge und hoheitsstaatliche Rahmenbedingungen im Sozialwesen: Ihre Auswirkungen auf die Paradoxien des professionellen Handelns. In: Arno Combe und Werner Helsper (Hg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. 9. Auflage 2017. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1230), S. 183–275.

Sommerfeld, Peter (2013): Die Etablierung der Sozialen Arbeit als Handlungswissenschaft – ein notwendiger und überfälliger Schritt für die Wissenschafts- und Professionsentwicklung. In: Bernd Birgmeier und Eric Mührel (Hg.): Handlung in Theorie und Wissenschaft Sozialer Arbeit. Wiesbaden: Springer VS (Research), S. 155–172.

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