Inobhutnahme (ION) 2030: Professionalisierungsbedarfe von ION-Einrichtungen vor dem Hintergrund eines belasteten Kinder- und Jugendhilfesystems Beitragsserie Teil 1: Professionelles Handeln als Typisierung und Einzelfallorientierung

Sozialarbeitende haben nach Fritz Schütze wie andere Professionen die praktische Aufgabe allgemeines Fach- und Professionswissen auf konkrete Fälle von Klienten mit einer individuellen Lebensgeschichte anzuwenden (Schütze 1992: 148). Das Vorhandensein bestimmter Fallkriterien ist jedoch nicht selbstevident und muss am konkreten Fall gewonnen werden. Das etwa Jugendliche bei einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen sind, Vernachlässigung in der Kindheit erleiden mussten oder eine Suchtproblematik aufweisen, erschließt sich nicht von selbst, sondern ist durch Aktenstudium, Gespräche mit den Jugendlichen und beteiligten Helfern im Einzelfall zu eruieren.

Diese Aufgabe stellt ein Kerngeschäft der professionellen Praxis in der Inobhutnahme dar. Gerade weil Jugendliche zur Krisenintervention plötzlich Aufnahme finden und in der Regel die Einrichtung innerhalb weniger Tage wieder verlassen, ist ein zügiger Überblick über Biografie und Problemlagen der Jugendlichen von zentraler Bedeutung für die Arbeit mit diesen. Hierbei ergeben sich jedoch spezifischen Einordnungsschwierigkeiten. Bei der Falleinordnung steht der Sozialarbeitende vor der Herausforderung einen Vertrauensvorschuss sowohl gegenüber der Aktenlage und der Interaktion mit den Klienten zu zeigen und gleichzeitig die Aktenlage mit ihren Realitätsbeschreibungen kritisch ernst zu nehmen. Diese Doppelperspektive beinhaltet die Fokussierung des Aktenbildes zur Herausarbeitung einer biografisch-verstehenden Fallanalyse und gleichzeitig die unbedingte Offenheit gegenüber den aktuellen Lebensrealitäten, Besonderheiten, Wünschen und Bedürfnissen der Klienten (Schütze 1996: 208 ff., 211 ff.). Methodisch sind hiermit Verfahren des Fallverstehens angesprochen, die in der Kinder- und Jugendhilfe noch zu wenig verbreitet sind (vgl. Ader und Schrapper 2020: 306 ff.), aber insbesondere bei der Hilfeplanung und Versorgung von Jugendlichen mit chronisch krisenhafter Fallgeschichte fachlich unbedingt geboten sind (Groen und Weber 2023).

ION-Stellen sind von ihrer Aufgabe her Schutzeinrichtungen zur kurzfristigen Krisen-intervention. Klassischerweise ist dabei die Aufgabenverteilung zwischen ION-Stelle und den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) der Jugendämter so gestaltet, dass die ION-Stellen als Dienstleister für Versorgung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen fungieren, während der ASD für Fallsteuerung und Clearing zuständig ist. ION-Stellen halten deshalb gemäß ihrer pädagogischen Ausrichtung eher ein minimales Betreuungssetting bereit, dass weder für langfristige IONs noch wiederkehrende IONs von Jugendlichen mit komplexen Problembedarfen konzipiert ist. Lange IONs gehen deshalb zumeist mit einer Diskrepanz zwischen Betreuungsaufgabe und Betreuungsbedürfnissen der Jugendlichen einher. Die Folge dieses Widerspruches zwischen Versorgungsauftrag und Bedarfen der Jugendlichen in der ION können spezifische Vereinseitigungen der Falltypisierung im Handeln der Professionellen sein. Im Folgenden sollen kurz zwei typische Varianten benannt werden:

  • Allgemeiner Strukturmangel als vermeintliches Grundproblem: bei Jugendlichen mit komplexen Bedarfen wird häufig ein hoher Strukturbedarf festgestellt, der in der ION nicht gegeben ist. Unterversorgung und Mangel werden dann allgemein und konkret hinsichtlich kritischer Verläufe beklagt, statt die Personalressourcen in der ION mit Blick auf die Versorgung der Bedarfe, Wünsche und Ideen der Jugendlichen innerhalb der ION-Einrichtung auszurichten.
  • Täter-Typisierungen gewalttätiger Jugendlicher: gerade unter Jugendlichen mit komplexen Problembedarfen kommt es häufig zu verbalen und körperlichen Grenzverletzungen, Übergriffen und Gewalt. Übergriffige Jugendliche können dabei schnell einseitig zu Gewalttätern typisiert werden, weil sie den Schutz anderer Jugendlicher und damit den Schutzcharakter der Einrichtung bedrohen. Darüber gerät schnell aus dem Blick, dass die Gewalttäter selbst Opfer sind, eines besonderen Schutzes bedürfen und von Beziehungs- und Unterstützungskontinuität durch Professionelle profitieren.

Wie können Sozialarbeitende in der ION die Tendenz zur vereinseitigenden allgemeinen Falltypisierung vermeiden und Falltypisierung und Einzelfallbezug besser balancieren?

Professionelle Helfer sollten sich um eine intensive Auseinandersetzung mit den Wünschen und Bedürfnissen gerade der ‚schwierigen‘ Jugendlichen bemühen. Jugendliche in der ION haben individuelle Vorstellungen und Ideen zur Unterstützung und Förderung ihres Wohlbefindens während der ION. Diese sind gemeinsam mit den Jugendlichen als Aufträge und Absprachen herauszuarbeiten, was zugleich die Etablierung eines Arbeitsbündnis fördert, statt dieses einfach vorauszusetzen.

Literaturverzeichnis

Ader, Sabine; Schrapper, Christian (Hg.) (2020): Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe. Uni-Taschenbücher GmbH; Ernst Reinhardt Verlag. München: Ernst Reinhardt Verlag (utb-studi-e-book, 5354). Online verfügbar unter https://elibrary.utb.de/doi/book/10.36198/9783838553542.

Groen, Gunter; Weber, Jack (Hg.) (2023): Krisenhafte Verläufe in den Erziehungshilfen. Kooperationen, Risikopartnerschaften, Verantwortungsgemeinschaften. Weinheim: Beltz Verlagsgruppe.

Schütze, Fritz (1992): Sozialarbeit als „bescheidene“ Profession. In: Bernd Dewe (Hg.): Erziehen Als Profession. Zur Logik Professionellen Handelns in Pädagogischen Feldern. Unter Mitarbeit von Wilfried Ferchhoff und Frank-Olaf Radtke. Wiesbaden: VS Verlag fur Sozialwissenschaften GmbH, S. 132–170.

Schütze, Fritz (1996): Organisationszwänge und hoheitsstaatliche Rahmenbedingungen im Sozialwesen: Ihre Auswirkungen auf die Paradoxien des professionellen Handelns. In: Arno Combe und Werner Helsper (Hg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. 9. Auflage 2017. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1230), S. 183–275.

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