Insbesondere der zunehmende Fachkräftemangel in Verbindung mit der Verschärfung von sozialen und psychischen Problemlagen bei Kindern und Jugendlichen stellt die Kinder- und Jugendhilfe in den nächsten Jahren vor gravierende Herausforderungen. Obwohl die Bedarfe von Kindern und Jugendlichen den Ausbau und die Erweiterung von Angeboten erfordern, können bestehende Angebote schon jetzt teilweise nur schwer aufrechterhalten werden, schließen Wohngruppen und sind viele Stellen in den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) der Jugendämter oftmals unbesetzt. Die Folge ist, dass Fälle fachlich nicht nur nicht angemessen bearbeitet werden, sondern einige Jugendämter nach eigener Auskunft den grundlegenden Kinderschutz teilweise nicht zu gewährleisten vermögen (neben vielen Beispielen s. für Hamburg und Berlin).
Die beschriebenen Probleme haben für die Einrichtungen der Inobhutnahme (ION), die sogenannten Kinder- und Jugendnotdienste, gravierende Folgen. ION-Einrichtungen sind eine verpflichtende Nothilfe nach §42 SGB VIII im Rahmen der akuten Krisenintervention und haben die Betreuung, Versorgung und den Schutz von Kindern und Jugendlichen in Not sicherzustellen. Jugendämter sind verpflichtet Heranwachsende Inobhut (IO) zu nehmen, wenn ein Kind oder Jugendlicher um ION bittet (§42 Abs. 1 Satz 1 Nummer 1), eine Gefahr für das Wohl eines Heranwachsenden eine ION erfordert (§42 Abs. 1 Satz 1 Nummer 2) oder ein minderjähriger ausländischer Heranwachsender unbegleitet nach Deutschland einreist (§42 Abs. 1 Satz 1 Nummer 3). Die Fallzuständigkeit und Fallsteuerung von Inobhutnahmen liegt in der Regel beim ASD des Jugendamtes. Weil Inobhutnahme konzeptionell als vorübergehende Kriseninterventionsmaßnahme konzipiert ist und mit der Rückgabe an die Personensorgeberechtigten, der Unterbringung bei einer anderen geeigneten Person oder einer Unterbringung im Rahmen von §33 SGB VIII Vollzeitpflege oder §34 SGB VIII Heimerziehung endet, sind Fallverläufe in IONs ganz wesentlich von der Arbeit der ASDs der Jugendämter abhängig. Kann der ASD einen ION-Fall fachlich nicht gut bearbeiten oder stehen keine Plätze für weiterführende Hilfen zur Verfügung, droht aus einer vorübergehenden ION eine dauerhafte ION von mehreren Monaten zu werden. Dieses Problem betrifft häufig Kinder und Jugendliche mit multiplen Problemlagen, die als sogenannte Systemsprenger gelten (u.a. multiple psychosoziale Risiken, massiv selbst- und fremdgefährdendes Verhalten, psychiatrische Mehrfachdiagnosen, Hilfebiografie mit chronischen Abbrüchen, Perspektivmangel und Exklusionsrisiken – vgl. Groen et al. 2021: 82 ff.), aber auch andere Kinder und Jugendliche mit komplexen Hilfebedarfen wie körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen.
Langzeit-IONs sind ein deutliches Symptom der grassierenden Systemkrise(n) der Kinder- und Jugendhilfe mit gravierenden Folgen. Die Fachgruppe Inobhutnahme der Internationalen Gesellschaft für Erzieherische Hilfen (IGfH) hat auf diese Problemlagen in einem Positionspapier von 2022 deutlich hingewiesen. Dort heiß es:
„Der Fachkräftemangel führt dazu, dass es viel zu wenig Anschlusshilfen und Plätze in Wohngruppen nach § 34 SGB VIII gibt. Die Verweildauern in der Inobhutnahme steigen deutlich und zum Teil über Monate bis zu einem Jahr in der Inobhutnahme an – das ist mit dem Auftrag und den Konzepten in der Inobhutnahme nicht in Einklang zu bringen. Durch das Fehlen von bedarfsgerechten Anschlusshilfen, das heißt, durch das Jugendhilfesystem selbst, verstärkt, verschlechtert bzw. manifestiert sich die Krisensituation, in welcher sich die jungen Menschen während einer Inobhutnahme befinden. Bundesweit wird auch berichtet, dass Wohngruppen nur junge Menschen aus der Inobhutnahme aufnehmen, die ‚möglichst wenig Arbeit machen‘ und Kinder und Jugendliche, die als schwer erreichbar gelten und komplexe Hilfebedarfe haben, verbleiben in der Inobhutnahme. Die Situation spitzt sich zunehmend somit auch in den Wohngruppen zu und Frustrationen und Eskalationen stellen neue Herausforderungen dar.“ (IGfH Fachgruppe Inobhutnahme 2022: 2)
Die Folgen von langen IONs stellen die schutzbedürftigen Kinder- und Jugendlichen aber auch die Fachkräfte in den ION-Einrichtungen vor enorme psychische Belastungen. Der offene Brief des Kindernotdienstes aus Berlin im Juni 2023 hat auf erschreckende Weise darauf aufmerksam gemacht: aufgrund langer IONs von Kindern mit massiven psychischen und seelischen Belastungen seien u.a. Perspektivlosigkeit und Frustration, selbst- und fremdverletzendes Verhalten, körperliche und sexualisierte Gewalt unter den Kindern, Einsätze von Rettungskräften und Polizei, Übergriffe auf Mitarbeitende an der Tagesordnung (offener Brief Kindernotdienst Berlin). Lange IONs stellen eine institutionelle Kindeswohlgefährdung dar, insofern sie eine vorübergehende Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit in der Regel minimaler Betreuung auf Dauer stellen, eine chronische psychosoziale Unterversorgung der Kinder und Jugendlichen darstellen und die Abläufe und Schutzaufträge der ION-Einrichtungen selbst massiv gefährden.
Zukunft der ION-Einrichtungen – Suche nach Lösungen und Professionalisierungsmöglichkeiten unter widrig(st)en Systembedingungen
Die Beitragsserie setzt sich vor dem Hintergrund der problematischen Entwicklungen zum Ziel fachliche Lösungsmöglichkeiten und Perspektiven zu erarbeiten, wie ION-Einrichtungen die beschriebenen Herausforderungen professionell bewältigen können, wobei der Fokus auf wiederkehrenden und langfristigen IONs von Jugendlichen (mit komplexen Hilfebedarfen) liegt. Dabei sind die folgenden drei Annahmen untersuchungsleitend:
- In einer krisenhaften Kinder- und Jugendhilfe werden Langzeit-IONs sowie wiederkehrende IONs bei Jugendlichen mit komplexen Bedarfen deutlich zunehmen, komplexe Hilfebedarfe wie psychische Belastungen von Jugendlichen steigen und damit Frustration, Perspektivlosigkeit und Leid von Jugendlichen in der ION potentiell chronifiziert. Deshalb müssen sich ION-Einrichtungen auf den Weg machen und die qualitative Betreuung, Begleitung und psychosoziale Versorgung von Jugendlichen als grundlegenden Auftrag und zentrale Leistung in der ION begreifen und realisieren.
- Die ION von Jugendlichen ist in der Regel als Dreifachkrise zu verstehen. Eine ION stellt erstens eine vorübergehende Lebenskrise in Bezug auf den bisherigen Lebensmittelpunkt eines Jugendlichen dar. Zweitens stellt die ION eine (re)traumatisierende Krise dar, insofern die vorübergehende Unterbringung an einem neuen Ort (mit oftmals minimaler Betreuungs- und Versorgungsqualität) bestehende psychische Belastungen verstärkt. Studien zeigen, dass 60-80 % der Heranwachsenden in den Erziehungshilfen traumatische Symptomatiken oder starke psychische Belastungen aufweisen (Adam und Schwab 2023: 215 ff.). Drittens steht die ION von Jugendlichen immer im Kontext einer normativen Entwicklungskrise, der Adoleszenzkrise, in der sich der Körper verändert und aufdrängt, Ablösungsprozesse von Eltern vollziehen, Selbstfindungs- und Identitätsfragen aufkommen und andere Gleichaltrige als zentraler Bezugspunkt sozialer, körperlicher und sexueller Explorationen fungieren (Streeck-Fischer 2021: V ff.). Die Entwicklungsaufgabe von Jugendlichen besteht darin, sich mit einem eigenen Standpunkt und einer eigenen Identität in der Welt verorten zu lernen. Die Bewältigung dieser Aufgabe ist ohne Widerstand gegen Anforderungen und Regeln von Erwachsenen nicht möglich, sodass Widerstand ein wertvolles Feedback ist, Sicht und Erleben von Jugendlichen zu ergründen und Interventionen daran anzupassen (Baierl 2017: 61 ff.). Hinter das oberflächliche Problemverhalten von Abgängigkeit, Substanzmittelkonsum, Lustlosigkeit, Widerstand, Aggression und Gewalt blicken zu wollen und die Tiefenstruktur von Krisenerleben und Leiden der Jugendlichen herausarbeiten zu wollen, ist damit eine zentrale professionelle Aufgabe bei der Betreuung und Versorgung von Jugendlichen in der ION.
- Das 1990 entstandene Kinder- und Jugendhilfegesetz ist ein modernes Dienstleistungsgesetz, das sich der Förderung der Entwicklung von allen Kindern und Jugendlichen verschreibt und dazu eine Vielzahl von Angeboten und Leistungen bereithält (Bringewat 1997: 19). Der Grundsatz des SGB VIII wonach jeder einzelne Heranwachsende „ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ hat (§1 Abs 1 SGB VIII), verpflichtet die Kinder- und Jugendhilfe ihr Leistungsangebot gemäß der Bedarfe der Kinder und Jugendlichen zu erweitern und passgenaue Angebote zur Versorgung und Förderung zu entwickeln. Auch wenn die ION von Kindern und Jugendlichen rechtssystematisch nicht zum Leistungsangebot, sondern zu den anderen Aufgaben der Jugendhilfe gehört (§2 Abs. 3 SGB VIII), sind ION-Einrichtungen im Rahmen ihrer Leistungserbringung in der Kinder- und Jugendhilfe qua gesetzlichem Auftrag verpflichtet, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen bestmöglich zu fördern. ION-Einrichtungen und Jugendämter sind demnach gefordert, dass ION-Angebot konzeptionell so zu erweitern, dass eine bessere Versorgung und Förderung aller in ION befindlichen Kinder und Jugendlichen realisiert wird.
Problemanalyse langer IONs und ihrer Herausforderungen für die Sozialpädagogische Praxis
Die Notwendigkeit die Betreuungskonzepte in ION-Einrichtungen weiterzuentwickeln soll dadurch aufgezeigt werden, dass Probleme und Folgen langer IONs analysiert werden. Dazu werden erstens die Folgen langer IONs im Hinblick auf die Verschärfung der Widersprüche des professionellen Handelns von Sozialarbeitenden untersucht. Dies erfolgt in 7 einzelnen Beiträgen, die sich an den Paradoxien professionellen Handelns nach Fritz Schütze abarbeiten (Schütze 1992: 150 ff.). Die Ergebnisse dieser Beiträge werden in 7 Grundsätzen für die Professionalisierung der Sozialpädagogischen Arbeit bei langen IONs mit herausfordernden Jugendlichen zusammengefasst.
Die Beiträge sind von der Idee getragen, dass die Zukunft der Notdienste und der Kinder- und Jugendhilfe darin besteht sich als psychosoziale Versorgungszentren aufzustellen. Es ist völlig klar, dass dies ein Ideal darstellt, das mit der Realität oftmals konfligiert. Die Realität von Notdiensten ist leider viel häufig von Überbelegung und ungenügender Personalausstattung geprägt. Insofern ist die Voraussetzung jeglicher Professionalisierung erstens eine angemessene personelle Ausstattung mindestens mit Doppeldiensten, die sich an den faktischen Bedarfen und Aufgaben (ION und Kriseninterventionsbetreuung) und nicht der Platzzahl bemisst (vgl. Notfallset Inobhutnahme IGFH) und zweitens eine Platzbelegung, in der Überbelegungen vermieden werden. Eine gute Strukturqualität (Räumlichkeiten, Personalausstattung, Qualifikation, Weiterbildung, Supervision etc.) ist jedoch kein Garant für eine gute Prozessqualität (Betreuungsqualität, Diagnostik, Partizipation, Kreativität, Einzelfallspezifität etc.). Die Beiträge setzen deshalb eine gute Strukturqualität als notwendige Bedingung von Professionalisierung voraus und fokussieren auf methodisch-prozessmäßige Perspektiven als hinreichende Bedingungen der Weiterentwicklung in den Notdiensten der Kinder- und Jugendhilfe. Die Beiträge bieten zudem die eine oder andere kleine Anregung für die Sozialpädagogische Arbeit mit herausfordernden Jugendlichen in stationären Hilfesettings.
Literaturverzeichnis
Adam, Hubertus; Schwab, Alexander (2023): „You’ll never walk alone“ – Warum sich Systeme, die sich um Kinder und Jugendliche kümmern, nicht abgrenzen sollten. In: Gunter Groen und Jack Weber (Hg.): Krisenhafte Verläufe in den Erziehungshilfen. Kooperationen, Risikopartnerschaften, Verantwortungsgemeinschaften. Weinheim: Beltz Verlagsgruppe, S. 213–218.
Baierl, Martin (2017): Herausforderung Alltag. Praxishandbuch für die pädagogische Arbeit mit psychisch gestörten Jugendlichen. 5., überarbeitete und ergänzte Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Online verfügbar unter http://doi.org/10.13109/9783666491665.
Bringewat, Peter (1997): Tod eines Kindes. Soziale Arbeit und strafrechtliche Risiken. 1. Aufl. Baden-Baden: Nomos-Verl.-Ges.
Groen, Gunter; Jörns-Prentati, Astrid; Weber, Jack (2021): Grenzgänger und Systemsprenger: von jungen Menschen mit komplexem Hilfebedarf und unzureichenden Hilfen. In: Karsten Giertz, Lisa Große und Silke Birgitta Gahleitner (Hg.): Hard to reach. Schwer erreichbares Klientel unterstützen. 1. Auflage 2021. Köln: Psychiatrie Verlag, S. 82–94.
IGfH Fachgruppe Inobhutnahme (2022): Mangel an Fachkräften in der Kinder- und Jugendhilfe wirkt sich dramatisch aus! Das Inobhutnahme-System steht vor dem Kollaps. Die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe kann dringende Hilfebedarfe kaum bis gar nicht mehr bedienen. Hg. v. Internationale Gesellschaft für Erzieherische Hilfen (IGfH). Online verfügbar unter https://igfh.de/sites/default/files/2022-12/Positionspapier_Fachkr%C3%A4ftemangel%20und%20aktuelle%20Auswirkungen_FG-Inobhutnahme_IGfH_0.pdf, zuletzt geprüft am 26.02.2023.
Schütze, Fritz (1992): Sozialarbeit als „bescheidene“ Profession. In: Bernd Dewe (Hg.): Erziehen Als Profession. Zur Logik Professionellen Handelns in Pädagogischen Feldern. Unter Mitarbeit von Wilfried Ferchhoff und Frank-Olaf Radtke. Wiesbaden: VS Verlag fur Sozialwissenschaften GmbH, S. 132–170.
Streeck-Fischer, Annette (2021): Jugendliche zwischen Krise und Störung. Herausforderungen für die psychodynamische Psychotherapie. Stuttgart: Schattauer. Online verfügbar unter https://elibrary.utb.de/doi/book/10.5555/9783608205107.