Gitta Peyn hat kürzlich auf LinkedIn einen Post mit Überlegungen zum Relativismusproblem des Konstruktivismus, wie es in der verbreiteten Aussage „Jeder hat seine eigene Wirklichkeit“ zum Ausdruck kommt, verfasst. Eine Vielzahl von Kommentatoren diskutierten unter diesem Thread ihre Verständnisse der Konstruktionskonzeptionen des Konstruktivismus. Besonders interessant ist dabei z.B. die Diskussion zwischen Klaus Eidenschrink und Fritz B. Simon, die kontrovers das Konzept der Viabilität von Ernst von Glasersfeld andiskutieren.
Die vielfältigen Kommentare haben mich angeregt, mein Verständnis von Konstruktivismus in Verbindung mit der Soziologischen Systemtheorie von Luhmann zu klären. Dies will ich in zwei knappen Kommentaren tun:
1. Erkenntnistheoretische Probleme des Konstruktivismus wie Solipsismus und Relativität erübrigen sich durch die Angabe der Systemreferenz als Gegenstandsbestimmung.
Das angesprochene Problem der vermeintlichen Gleichsetzung von Konstruktivismus und Perspektivenrelativität besteht aus meiner Sicht darin, dass systemtheoretisch geschulte Beobachter in ihren Beschreibungen oftmals von Systemen sprechen, ohne jedoch die Systemreferenz zu benennen und zu unterscheiden, die in ihren Beschreibungen gemeint ist. Die verschiedenen Vertreter Systemischer Organisationsberatung, Coaching, Supervision etc. liefern dafür treffliche Beispiele. Man redet von Systemen und deren Wirklichkeitskonstruktion mittels Autopoiesis, wobei als System ein konkretes Individuum, eine Einzelfamilie oder ein spezifisches Unternehme bezeichnet werden können, ohne das dies explizit. Der Organisationssoziologe Stefan Kühl hat dazu einmal mit Bezug auf Niklas Luhmann bemerkt, dass Vertreter Systemischer Organisationsberatung „zu viele Autopoiesis- und zu wenige organisationssoziologische Texte lesen würden“ und darüber die jeweilige Spezifität Sozialer Systeme wie Gruppen, Familien, Organisationen, Teams etc. aus dem Blick verlören (Kühl 2001: 226). Man kann dies für die Systemische Beraterszene folgendermaßen verallgemeinern: es wird zu viel von Konstruktionsprozessen und Wirklichkeitskonstruktionen gesprochen, ohne die Systemreferenz vorgenommener Beschreibungen zu bestimmen und damit die Unterschiedlichkeit von sozialen, psychischen und biologischen Prozessen und ihrer Kopplungen angemessen zu reflektieren. Ohne den Systembezug fehlt der Gegenstand der Beobachtung, der, und das ist das Entscheidende für Luhmann, selbst über Beobachtungskapazitäten verfügt. Luhmanns Systemtheorie versteht sich, was oft übersehen wird, als Theorie der Beobachtung beobachtender Systeme. In der Perspektive einer Theorie der Beobachtung beobachtender Systeme, kann es niemals um die Frage der tatsächlichen Beschaffenheit der Welt oder der beobachteten Systeme gehen, ganz gleich, ob es sich um biologische, psychische oder soziale Systeme handelt:
„Hätte der Theorieaufbau statt beim System beim Problem des Beobachtens, das heißt: des unterscheidenden Bezeichnens eingesetzt, wäre vielleicht deutlicher geworden, daß die gesamte Theorie als Theorie beobachtender Systeme in der Perspektive einer Beobachtung zweiter Ordnung, das heißt in der Perspektive des Beobachtens von Beobachtungen geschrieben ist und gerade nicht als unmittelbare Abschilderung der Welt.“ (Luhmann 1993).
Der notwendige Systembezug jeder Beobachtung und des Austausches über Beobachtungen biologischer, psychischer oder sozialer Phänomene bindet die Vielfältigkeit der Beobachter und ihrer Erkenntnisweisen und konstituiert einen gemeinsamen Beobachtungsgegenstand. Das die jeweiligen Beobachter zu unterschiedlichen Beschreibungen der jeweiligen Systeme gelangen ist dabei erwartbar und unproblematisch. Letztlich entscheiden Plausibilität und Gegenstandsangemessenheit konkreter systemtheoretischer Beschreibungen für die jeweiligen Phänomene über die Qualität von Analysen.
2. Konstruktivismus als realistische Erkenntnistheorie durch Systembezug und Beobachtung 2. Ordnung
Luhmann verknüpft konstruktivistischen Annahmen konsequent mit seiner systemtheoretischen Theoriearchitektur. Die konstruktivistische Einsicht in die Vielfalt des Erkennens wird konsequent zum Theorem systemrelativer Erkenntnis ausformuliert, das zugleich mit der Zerlegung Subjektes in Biologie, Erleben und Kommunikation dessen Erkenntnisvermögen zur Sicherung objektiver Erkenntnis endgültig entthronisiert:
„Was immer seine Anhänger sagen mögen: selbstverständlich ist der Konstruktivismus eine realistische Erkenntnistheorie, die empirische Argumente benutzt. Die Stoßrichtung zielt nur gegen den alten Selbstbegründungsanspruch der Erkenntnistheorie und deren Formen der Externalisierung: Gott bzw. Subjekt. Und das Resultat ist die These der Systemabhängigkeit aller Erkenntnis mit dem Korrelat einer Beobachtung zweiter Ordnung, einer ebenfalls immer empirisch und systemisch gemeinten Beobachtung beobachtender Systeme.“ (Luhmann 1990a: 15, Fußnote 2)
Das Theorem systemrelativer Erkenntnis macht jegliche erkenntnistheoretische Fragestellung durch die Gleichzeitigkeit systemspezifisch operierender Erkennensprozesse von Zellen, Gehirmen, Psychen, Familien etc. entbehrlich. Insofern biologische, psychische und soziale Prozesse als empirisch existent angesehen werden, steht „der Realismus des Konstruktivismus auf sicheren Beinen, denn weder Jean Piaget noch Heinz von Foerster, weder Humberto Maturana noch Ernst von Glasersfeld lassen den geringsten Zweifel daran, daß es sich um Konstruktionen real operierender Systeme handelt.“ (Luhmann 1990b)
Versteht man Zellen, Gehirne, Psychen, Familien und Organisationen als real operierende Systeme ist empirisch zu beschreiben, wie sich diese Systeme mittels ihrer Operationen gegenüber der Umwelt operativ autonom schließen. Sinnhafte Systeme wie Psychen und Kommunikation sind historische Systeme, die mittels Operationen Gedächtnis und Strukturen entwickeln sowie eine operative Grenze zu ihrer Umwelt aufbauen. Diese Systeme sind nicht beliebig, sondern produzieren und reproduzieren Strukturen, die sie selbst binden und begrenzen, sodass sie sich nicht ständig ändern können oder jedenfalls nur dosiert und schrittweise. Entscheidend ist, dass sich sinnbasierte Systeme operativ, nicht kognitiv autonom schließen, anderenfalls wären Familien durch Familientherapeuten und Organisationen durch Organisationsberater kommunikativ nicht erreich- und damit irritierbar. Kognitive Schließung würde bedeuten, dass Systeme alle Schemata der Beobachtung selbst bezögen und dies auch wüßten, also ständig im Modus des Beobachtens 2. Ordnung operierten, sodass keine Fremdreferenz gegeben und nötig wäre (Luhmann 2000: 471).
Ob als Wissenschaftler, Systemtheoretiker, Therapeut, Berater oder Coach – die Prämisse systemrelativer Erkenntnis impliziert, dass die Beobachtung von Psychen, Familien und Organisationen als beobachtender Systeme nur als Fremdbeobachtung im Modus der Beobachtung 2. Ordnung möglich ist. Inwiefern die Systeme mit diesen Beobachtungen und ihren Beschreibungen etwas anzufangen wissen, ist eine empirische Beobachtungsfrage.
Literatur
Luhmann, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung. Opladen: Westdt. Verl.
ist dir damit gelungen, die #OrganismusAnalogie (Soziale Systeme, 1984, seite 288) in die #SystemAnalogie einzuführen?
was ermöglicht dir diese #Körpersoziologie?
fragt ein sehr strenger luhmannianer (und insb. sozialarbeiter 😉
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