Die soziologische Systemtheorie im Anschluss an Niklas Luhmann ist grundlegend prozess- und strukturorientiert angelegt. Sie untersucht und beschreibt das Verhältnis von operativer Aktivität, Strukturbildung, Reproduktion und Anpassung Sozialer Systeme unterschiedlicher Abstraktion und Komplexität. Die Überwindung des Gegensatzes von Struktur und Prozess charakterisiert eine Besonderheit und spezielle analytische Stärke, auch in empirisch-gegenstandsbezogener Hinsicht. Systemtheorie interessiert sich dafür, wie Systeme in ihrem Operieren Strukturen ausbilden, ein Gedächtnis aufbauen und eine System-Umwelt-Grenze entwickeln. Wendet man diese systemtheoretische Perspektive auf die Betrachtung sozialer Gebilde wie Familien an, wird die zentrale Bedeutung von Strukturbildung schnell einsichig. Ohne Strukturbildung, etwa durch die Ausbildung von Erwartungen, könnte familiäre Binnenkommunikaton nicht angmessen enggeführt und damit stabilisiert werden. Die Familie als soziale System würde sich im ständigen Fluss von Neuorientierung befinden. Das wäre für die Familienmitglieder sehr anstrengend und kognitiv herausfordernd.
Die Strukturbildung sorgt für Stabilität und setzt Veränderung gleichzeitig Grenzen. Familien (aber auch Liebespaare) als intimitätsbasierte Sozialsysteme befinden sich in einem Zustand dynamischer Stabilität, mit der sie Veränderungen und Anpassungen bewältigen und gleichzeitig die völlige Irritation und Entfremdung durch radikale Offenheit und Unentschiedenheit vermeiden. Dies erklärt, wieso Familien erwartbar skeptisch gegenüber weitgehenden Veränderungen sind und sich ein spezielles Professionalisierungsfeld von Familientherapeuten und Systemische Beratern für die Arbeit mit Familien (Paaren) gebildet hat. Die beispielsweise plötzliche schwere Erkrankung eines Kindes vermag eine betroffene Familie in eine Krise zu stürzen, der dadurch begegnet wird, dass sich die gesamte Familienorganisation und -kommunikation auf die Krankheit fokussiert, ein heroischer Familienkampf gegen die Krankheit geführt wird oder deren Schwere relativiert wird. All diese Umgangsweisen können als Versuche gedeutet werden, der plötzlichen Einsicht in die Endlichkeit und Bedrohung der Existenz eines geliebten Familienmitglieds nicht in existentieller Offenheit sondern bewältigbarer Weise zu begegnen. Die emotionale Belastung und Überforderung dieser existentiellen Bedrohung für die einzelnen Familienmitglieder erzeugt einen Kommunikationsüberschuss und Klärungsbedarf von großer Komplexität, der im Modus familiärer Alltagskommunikation schwer zu bewältigen ist und in dem die Bedürfnisse der Beteiligten als Einzelpersonen leicht übersehen werden können. Beratung durch einen Professionellen eröffnet hier einen gerahmten und strukturierten Kommunikationsraum, in dem die Stimmen der Einzelnen gehört und Prozesse der Selbstorganisation als Familie gefördert werden.
In der Szene der Systemischen Praktiker wird häufig eine grundlegende Prozessorientierung im beraterischen Handeln und Agieren gefordert. Systemisches Denken und Arbeiten, so diese Vertreter, erweise sich in einer prozesszuralen Arbeitsweise, die Verben gegenüber Substantiven bevorzugt, Statik in Dynamik verflüssigt und vorsichtig gegenüber der Verdinglichung von Prozessen ist (s. etwa diesen Kurzbeitrag von Gitta Peyn). Geht man dagegen von einer grundlegenden Struktur- und Prozessorientierung in der Systemischen Fallarbeitspraxis aus, sind die Geschichte und Bedeutung familiärer Kommunikationsstrukturen und ihrer Reproduktion in aktuellen Kommunikationsprozessen herauszuarbeiten. Diese spezifischen Strukturmuster stellen die kommunikative Hintergrundarchitektur bzw. Horizont von Familien dar, an den beraterische Arbeit behutsam anknüpft, um Veränderungsimpulse und -anregungen gezielt zu initiieren.