Was ist Familienerziehung? Eine Annäherung

Für die Praxis der fallbezogenen Kinder- und Jugendhilfe ist die fachliche Auseinandersetzung mit erzieherischen Problemlagen in Familien eine Selbstverständlichkeit. Erziehungsprobleme in Familien müssen von professionellen Fachkräften eingeschätzt werden und in Hilfeplänen ist die „Stärkung der Erziehungskompetenz“ ein beliebtes Hilfeplanziel. Diese inhaltliche Fokussierung sozialpädagogischer Praxis auf elterliche Erziehung hat ihre rechtliche Grundlage in der Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe. Pflege und Erziehung von Kindern ist das Recht und die Pflicht der Eltern (§1 Abs. 2 SGB VIII). Hilfen zur Erziehung sind rechtlich als Unterstützungsmaßnahmen bei der Erziehung von Kindern konzipiert, auf die ein Anspruch besteht, wenn „eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist“ (§27 Abs. 1 SGB VIII). In der jüngeren Zeit machen verschiedene erziehungswissenschaftlichhen Forschungsbeiträge darauf aufmerksam, dass eine Theorie der Familienerziehung und eine empirische Erforschung familiärer Erziehungspraxis in der erziehungswissenschaftlichen Forschung weitestgehend fehlen (Franzheld, Schierbaum 2020; Krinninger 2019; Krinninger, Müller 2020; Kollmer 2020; Nohl 2020; Rademacher 2018; Wernet 2020; Wolf 2020a, 2020b). Überraschend ist dieser Befund, weil Erziehung neben Bildung, Sozialisation, Lernen und Entwicklung ein zentraler Grundbegriff der Erziehungswissenschaft darstellt. Verwunderlich ist dieser Befund vor allem für die Sozialpädagogik, die ein Teilgebiet der Allgemeinen Pädagogik und Erziehungswissenschaft darstellt, weil die Kinder- und Jugendhilfe ein wichtiges professionelles Tätigkeitsfeld Sozialpädagogischer Praxis darstellt und in dieser wie dargestellt die familiäre Erziehung einen zentralen Bezugspunkt der Fachpraxis darstellt.

Wernet (2020: 114) hat darauf hingewiesen, dass Erziehung innerhalb der Erzieungswissenschaft durch das praktisch-normative Interesse der historischen Pädagogik bestimmt wird und nicht als erkenntnislogischer Phänomenbereich konturiert ist, der theoretisch analysiert und empirisch erforscht wird. Um elterliche Erziehung in der Familie wissenschaftlicher Beobachtung zugänglich zu machen, können Erziehungssituationen als Ausdrucksform elterlicher Erziehungspraktiken konzipiert werden, die aus dem Alltagsverlauf familialer Interaktionen herausstechen (Wolf 2020b). Damit ist sogleich die die Frage verbunden, welche Praktiken elterlichen Handelns in der Familie als Erziehungspraktiken zu charakterisieren sind. Elterliche Erziehungspraktiken werden oftmals mit der Macht der Eltern zur Ermahnung und Disziplinierung ihrer Kinder in Verbindung gebracht und deshalb an typischen Versagungs- und Begrenzungshandlungen gegenüber dem kindlichen Eigensinn und Handeln ausgewiesen (Kollmer 2020; Wernet 2020: 120 ff.). Konturiert man jedoch die Familie als Generationenverhältnis und Ort der Fürsorge, in dem die Kinder abhängig, eingeschränkt handlungsfähig, verletzlich und daher schutzbedürftig sind (Krinninger 2019: 253; Slütterly, Mühlbacher 2018: 128), ist Erziehungshandeln in der elterlichen Verantwortung für Schutz, Versorgung und Pflege der Kinder fundiert. Erziehungshandeln zeigt sich deshalb in einer Vielzahl von elterlichen Aktivitäten wie Ermunterungs- und Anleitungspraktiken, geduldigen und ungeduldigen Aufforderungen, Ankündigungen, Übungen und Wiederholungen usw., ohne die eine Bewältigung des Familienalltags und die Heranführung der Kinder an komplexe Praktiken wie Schlafen und Essen undenkbar wären.

Eingebunden in die Routinen und Alltäglichkeit der Intimkommunikation und Körperlichkeit familialer Interaktionen und Beziehungen ist davon auszugehen, dass Erziehungshandeln neben reflexiver Planung auch spontane und habituierte Formen annimmt (Nohl 2018). Entscheidend ist jedoch, dass Erziehungshandeln implizite oder explizite Erziehungsabsichten artikuliert. Mit den Erziehungsabsichten gehen deshalb auch in der Familie notwendig Selektionen einher (Luhmann 2002: 62 ff.), denn Eltern müssen, wenn auch nur in Ausnahmefällen, überprüfen und entscheiden, ob ihre Absichten erreicht oder nicht erreicht wurden, sie situativ variiert oder gänzlich aufgegeben werden. Eltern können in ihrem Erziehungshandeln nachlässig und inkonsequent sein und sind es auch häufig. Jedoch können Eltern nicht darauf verzichten sicherzustellen, dass Kinder physisch und emotional versorgt und gepflegt werden. Das ist ihr natürlicher und rechtlicher Sorge- und Erziehungsauftrag und zugleich die Quelle alltäglicher und wiederkehrender Konflikte mit Kindern. Denn die Erziehungsabsichten führen notwendig zu Konflikten, die in der wachsenden Willensbildung und Eigensinnigkeit der Kinder begründet sind (Kollmer 2020; Wolf 2020a, 2020b). Elterliche Erziehungskompetenz wird in der Bewältigung dieser Konflikte sichtbar. Mit Bezug zur fallbezogenen Kinder- und Jugendhilfe geht es dabei weniger um die Bewältigung der unendlich vielen kleinen Minikrisen des Alltags mit Kindern, wenn um Fernsehzeiten, die Anzahl von Eiskugeln oder die Dauer des Spielplatzbesuches gerungen wird. Die Bedeutung elterlicher Erziehungskompetenz zeigt sich vor allem dort, wo Eltern Konflikte erfolgreich bestreiten und sicherstellen, dass Kinder u.a. schlafen, essen, Trost finden, sich anziehen, gepflegt werden, zur Kita und Schule gehen usw.. Erziehung ist in dieser Hinsicht ein zentrales Werkzeug von Eltern, um die körperliche und emotionale Versorgung und Pflege von Kindern zu sichern.

Literatur

Franzheld, Tobias; Schierbaum, Anja (2020): Erziehungskrisen in der familialen Lebenspraxis – ein Annäherungsversuch. In: Sozialer Sinn 21 (2), S. 241–265. DOI: 10.1515/sosi-2020-0011.

Krinninger, Dominik (2019): Kritische Anmerkungen zur Vermeidung des Erziehungsbegriffs. In: Wolfgang Meseth, Rita Casale, Anja Tervooren und Jörg Zirfas (Hg.): Normativität in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden: Springer (Springer eBook Collection), S. 247–265.

Krinninger, Dominik; Müller, Hans-Rüdiger (2020): Familienerziehung als reflexive soziale Praxis. In: Arnd-Michael Nohl (Hg.): Rekonstruktive Erziehungsforschung. Wiesbaden, Heidelberg: Springer VS (Rekonstruktive Bildungsforschung Ser, v.20), S. 167–182.

Kollmer, Imke (2020): Das elterliche Nein. In: Sozialer Sinn 21 (2), S. 267–288. DOI: 10.1515/sosi-2020-0012.

Luhmann, Niklas (2002): Das Erziehungssystem der Gesellschaft. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1593).

Nohl, Arnd-Michael (2018): Zur intentionalen Struktur des Erziehens. Eine praxeologische Perspektive. In: Zeitschrift für Pädagogik 64 (1), S. 121–138.

Rademacher, Sandra (2018): Erziehungswissenschaft als Bildungsforschung? Zwei Erklärungsversuche und eine programmatische Skizze zur empirischen Erforschung von Erziehungsphänomenen als Gegenvorschlag. In: Andrea Kleeberg-Niepage (Hg.): Kindheits- und Jugendforschung in der Kritik. (Inter-)Disziplinäre Perspektiven Auf Zentrale Begriffe und Konzepte. Unter Mitarbeit von Sandra Rademacher. Wiesbaden: Vieweg, S. 29–58.

Slütterly, Ferdinand; Mühlbacher, Sarah (2018): Wider den Triadismus. In: WestEnd – Neue Zeitschrift für Sozialforschung (2), S. 119–137.

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