Kurzüberblick Fallarbeit/Kasuistik

1. Was ist Kasuistik?

  • Kasuistik fragt: „Was ist der Fall?“ und „Was steckt dahinter?“
  • Unterschiedliche Analyseperspektiven in Wissenschaft und Praxis

Wissenschaft nutzt Fallanalysen, um allgemeines systematisches Wissen zu generieren, das wissenschaftliche Wahrheitskriterien erfüllt.

Praxis nutzt Fallanalysen, um einzelne Fallmerkmale herauszuarbeiten und zu einer individuellen Falldeutung zu verdichten, die Lösungswege und Handlungsmöglichkeiten für die praktische Arbeit hervorbringt.

2. Zwei Beispiele von kasuistischen Zugriffen auf Fälle: Burkhard Müller (2016) und Braun et al. (2011)

Burkhard Müller sieht die Herausforderung von Sozialpädagogischer Fallarbeit darin, dass sie häufig drei Fallebenen gleichzeitig bearbeiten und reflektieren. Er unterscheidet (Müller 2016: 966 ff.):

  1. „Ein Fall von“ meint den institutionell-rechtlichen Kontext eines bestehenden Falles: beispielsweise Erziehungsbeistand nach §30 SGB VIII
  1. „Ein Fall mit“ steht für die Beziehungsebene des Falles und der gemeinsamen Aktivitäten von Professionellen und Klienten
  1.  „Ein Fall für“ meint die Bedarfsebene weiterer Anbindung der Klienten, z.B. an Schuldenberatung, Psychiatrie etc.

Das Besondere an der Konzeption von Müller ist, dass diese drei Fallebenen nicht einfach als geklärt vorausgesetzt werden können, sondern die Aushandlungen der beteiligten Akteure miteinschließen:

  • Für die Ebene des institutionell-rechtlichen Kontextes ist es etwa bei Kindeswohlgefährdung nach §8a SGB VIII häufig nicht ausgemacht, dass Eltern und Jugendamt, oder Jugendamt und Familienhelfer, oder Eltern und Familienhelfer sich einig sind über das Vorliegen und damit die Existenz einer Gefährdung für ein Kind.
  • Auf der Beziehungsebene ist mit Klienten zu konkretisieren, was zu tun ist und an welchen Themen gearbeitet werden soll. Auch dies ist zwischen Fachkräften und Klienten häufig auszuhandeln, wenn man sich über Schwerpunkte oder Prioritäten der Zusammenarbeit nicht einig ist.
  • Die Fallebene der Anbindung an andere Unterstützungssysteme impliziert wiederum die Aus-handlung mit den zuständigen Akteuren bezüglich bestehender, weitergehender oder nicht vorlie-gender Unterstützungsbedarfe. Die Komplexität und das analytische Potenzial dieser Fallheuristik sind vor allem dazu geeignet in den Blick zu bekommen, an welchen Stellen es zwischen beteiligten Akteuren zu Widersprüchen und ggf. zu Konflikten kommt. Dies wird für die Fallanalyse im nächsten Kapitel von großer Relevanz sein.

Ein weiterer kasuistischer Zugriff auf Fälle ist das Modell Sozialpädagogischer Fallarbeit von Braun et al. (2011). Es unterscheidet vier strukturelle Dimensionen Sozialpädagogischer Fälle (Braun et al. 2011: 27 ff.):

  • Strukturdimension: hier werden die materielle, milieuspezifische und familien-strukturelle Lebenskonstellation eines Falles untersucht.
  • Subjektdimension: hier werden die subjektive Sinngebung der Lebenssituation betrachtet und individuelle Ressourcen, Bedürfnisse, Interessen und Potenziale in den Blick genommen.
  • Zeit- und Prozessdimension: in dieser Dimension wird auf den besonderen Zeitrahmen eines Falles sowie die lebensgeschichtliche Situation der Klienten fokussiert.
  • interaktive Dimension: hiermit ist die kontextuelle Hervorbringung des Falles gemeint, weil Fälle je nach Fallzugriff durch z.B. Jugendamt oder offene Jugendarbeit eine andere Fallkontur bekommen.

Dieses Modell ermöglicht fallanalytische Untersuchungen sowohl in wissenschaftlicher als auch praktischer Perspektive. Wenn man etwa die materielle Situation einer Familie analysiert, kann dies entlang allgemeiner Kriterien wie Haushaltseinkommen, Erwerbstätigkeit der Eltern, mögliche Armut, Sozialleistungsbezug oder Familienmerkmalen wie Ehe, Partnerschaft mit gemeinsamen Haushalt, getrennte Eltern mit gemeinsamer Sorge aber verschiedenen Betreuungskonstellationen, partner-schaftlicher Elternarbeit oder Elternkonflikten etc..

Die Bedeutung dieser Merkmale für eine Familie muss jedoch fallspezifisch erschlossen werden. Eine alleinerziehende Mutter mit Sozialleistungsbezug und fehlender Erwerbstätigkeit, deren 8-jährige Tochter aggressives Verhalten im Haushalt zeigt, muss nicht notwendig unter armutsbedingten Stress leiden, aber kann insbesondere wegen der Konflikte mit ihrem Ex-Partner und Vater des Kindes Unterstützungsbedarf bei der Erziehung aufweisen. Oder es ist umgekehrt und die Mutter leidet trotz Konflikten mit dem Ex-Partner unter den Belastungen ihrer materiellen Lebenssituation und ist deshalb in ihrer Erziehungsfähigkeit beeinträchtigt. 

Der Weg zu einer fallspezifischen Deutung im Rahmen einer Hilfe sind Kontakt- und Beziehungsaufbau zu Klienten, die Informationsgewinnung durch Gespräche und die fallspezifische Deutung der Problemlagen durch die Verknüpfung von wissenschaftlichem Wissen und Fallspezifität.

Literatur
Braun, Andrea; Graßhoff, Gunther; Schweppe, Cornelia (2011): Sozialpädagogische Fallarbeit. München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag (Studienbuch für soziale Berufe, 11).

Müller, Burkhard (2016): Professionelle Handlungsungewissheit und professionelles Organisieren Sozialer Arbeit. In: Stefan Busse, Gudrun Ehlert, Roland Becker-Lenz und Silke Müller-Hermann (Hg.): Professionalität und Organisation. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden (Edition Professions- und Professionalisierungsforschung, Band 6), S. 187–206.

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