Professionell mit der Schauseite von Familien in der Sozialen Arbeit umgehen


I. Spannungen und Widersprüche bei der professionellen Arbeit mit Familien
Burkhard Müller beschreibt professionelle Fallarbeit in der Sozialen Arbeit als die Gleichzeitigkeit von drei Arbeitsebenen: erstens die professionelle Einschätzung der konkreten Themen und Problemlagen von Klienten („Fall von“), zweitens die professionelle Arbeit als persönliche und vertrauensvolle Beziehungstätigkeit innerhalb eines Arbeitsbündnisses („Fall mit“), drittens Eingebundenheit des Falles in einen Hilfekontext (Hilfen zur Erziehung, Jugendgerichtshilfe, Fluchtsozialarbeit etc.) und potentiell weitere Kontexte  (Psychiatrie, Krankenhaus) („Fall für“) (Müller 2012: 966 ff.; Müller 1993: 23). In konkreten Praxiskonstellationen entstehen jedoch sehr häufig Spannungen zwischen den beschriebenen drei Arbeitsebenen. So zeigt die jüngere empirische Forschung zur Kinderschutzarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe, dass sozialpädagogische Fachkräfte angesichts akuter oder potentieller Gefährdungslagen von Kindern und Jugendlichen häufig Ressourcen und Entwicklungspotenziale von Familien ignorieren und Fallentscheidungen ohne Einbeziehung der verschiedenen Familienmitglieder treffen (Bohler/Franzheld 2015; Franzheld 2017; Retkowksi et al. 2011; Marks et al. 2018). Hier zeigt sich, dass obwohl Soziale Arbeit in neueren Professionstheorien als verständigungsorientierte Beziehungsprofession (Gahlleitner 2017; Hildenbrand 2017) konzipiert wird, Praxiszusammenhänge dazu tendieren die intensive Beziehungsarbeit mit Klienten zu vernachlässigen und die Fallarbeit nicht mit, sondern als ‚Fall von‘ und ‚Fall für‘ also letztlich über die Klienten durchzuführen.

Doch nicht nur Zwangskontexte wie Kinderschutzarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe erschweren die dialogische Beziehungsarbeit. Irritierende Falleinschätzungen und -urteile drängen sich Professionellen in der Arbeitspraxis bei näherer Betrachtung auch sonst regelmäßig auf und beeinträchtigen potentiell die Beziehungsarbeit.  Als Praktiker ist man auch in etablierten, vertrauensvollen Arbeitsbündnissen eigentlich regelmäßig verwundert, wie sehr die beobachtete Kommunikation in Familien von den Selbstbeschreibungen derselben Familien faktisch abweicht. Ich erinnere mich an einen jüngsten Fall im Rahmen einer Sozialpädagogischen Familienhilfe in der die Familie mir erzählte, wie toll sie mit ihrem kleinen Sohn zusammen jeden Tag am Tisch Abendbrot esse. Im nächsten Moment lief dieses Kind mit seinem Teller wie selbstverständlich in sein Zimmer, setzte sich vor den Fernseher in seinem Zimmer und aß mehr schlecht als recht. Die Eltern haben mir bei vielen weiteren Hausbesuchen berichtet, dass man zusammen am Tisch esse, während der Sohn mehrfach bei diesen Termine vor dem Fernseher in seinem Zimmer aß.

Praktiker:Innen sind nun vielleicht geneigt anzunehmen, dass diese Familie schlichtweg lügt,  den Eltern Problembewusstsein fehlt  oder es generell an Veränderungsbereitschaft mangelt. Dies erklärt jedoch nicht den offensichtlichen Unterschied zwischen dem Gesagten und dem Faktischen, der dem Professionellen förmlich in das Gesicht springt, jedoch von den Familienmitgliedern nicht zu bemerkt werden scheint. Deshalb soll hier eine andere Idee entwickelt werden. Es wird nämlich die Hypothese vertreten, dass dieser offensichtliche Unterschied zwischen der Selbstbeschreibung der Familie und der Fremdbeobachtung durch den Professionellen darauf hinweist, dass Familien ähnlich Organisationen eine Schauseite aufbauen, die vom Binnenbereich des faktischen Familienalltags zu unterscheiden ist.

II. Gemeinsamkeiten von Organisationen und Familien
Was ist damit gemeint? Stefan Kühl hat in einem programmatischen Aufsatz (Kühl 2014) die These vertreten, dass die von Niklas Luhmann entwickelte Ebenenunterscheidung von Funktionssystemen, Organisationen und Interaktionen (Luhmann 1975) auf der Ebene von Organisationen horizontal ausgeweitet werden müsse. Demnach hätten sich auf dieser mittleren Systemebene neben Organisationen weitere mitgliedschaftsbasierte Sozialsysteme wie Familien, Soziale Bewegungen und Soziale Gruppen entwickelt. Die Bedeutung dieser Sozialen Gebilde im Alltag wird schnell deutlich, wenn man sich klar macht, dass Personen in modernen Gesellschaften in der Regel nicht nur Familien und Organisationen, sondern auch Sportgruppen, Freundeskreisen sowie kulturellen Initiativen und politischen Bewegungen angehören.

Nun könnte man einwenden, dass die Mitgliedschaftsbasis nicht entscheidend ist, da die Unterschiede zwischen diesen Sozialgebilden größer als ihre Gemeinsamkeiten sind. Vergleicht man etwa Familien und Organisation zeigt sich sofort, dass beide deutliche Unterschiede aufweisen. Während Organisationen sich über Entscheidungskommunikation reproduzieren und jedes Gespräch in eine Entscheidungskommunikation überführt werden kann (Luhmann 2000), wird in Familien mittels Intimkommunikation kommuniziert (Kühl 2019). Zudem können Organisationen im Unterschied zu Familien sehr groß sein und viele hunderte Mitglieder umfassen. Dies führt dazu, dass Organisationen viel stärker formalisiert sind und eine etablierte Struktur hierarchisch organisierter Kommunikationswege ausbilden (Luhmann 1974; Kühl 2012, 2017). Im Zweifelsfall wissen die Mitglieder in Organisationen in unklaren Situationen an wen sie sich wenden müssen, um eine Frage beantwortet und eine Entscheidung präsentiert zu bekommen. Familien haben ebenfalls eine Hierarchie. Diese ist jedoch nicht formalisiert, sondern eher natürlich gegeben. Die Eltern als Erwachsene entscheiden im Zweifelsfall selbstverständlich was zu tun ist und nicht die Kinder (Wetzel et al. 2014). Dieses asymetrische Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern ist in den ersten Jahren der Kindheit besonders stark und symmetrisiert sich zunehmend mit dem Heranwachsen der Kinder.

Trotz dieser Unterschiede besteht die Gemeinsamkeit zwischen Familien und Organisationen darin, dass die Mitgliedschaft für sie konstitutiv ist. Das bedeutet nicht, dass Familien und Organisationen ständig überprüfen, wer dazugehört und wer nicht. In beiden Sozialen Gebilden bewegen sich etwa Geschäftspartner und Freunde als Gäste, die Nicht-Mitglieder sind. Das Merkmal der Mitgliedschaft besagt nur, dass Familien und Organisationen sich entlang der Mitgliedschaft formieren und man in beiden nicht einfach als zugehörig gilt. Man ist nicht einfach Mitglied einer Organisation ist, sondern wird es durch Entscheidung der Organisation, sei es durch einen Aufnahmeantrag oder einen Arbeitsvertrag, dem als Entscheidung in der Organisation zugestimmt werden muss. Mitglied einer Familie wird man dagegen qua Geburt oder wenn man ein Kind bekommt und zu einem Elternteil wird, sei es als biologischer oder sozialer Elternteil (Kühl 2019).

Mit dem Merkmal der Mitgliedschaft geht eine weitere Gemeinsamkeit von Familien und Organisationen einher. Weil sich Familien und Organisationen über Mitgliedschaft schließen, konstituieren sie einen Binnenraum interner Kommunikation, der von der restlichen gesellschaftlichen Umwelt abgegrenzt ist. Es ist dieser interne Bereich in dem Familien Meinungsverschiedenheit austragen, Intimität teilen und Fürsorglichkeit ausleben. Organisationen verbergen ebenfalls ihre internen Konflikte und Wertwidersprüche in ihrem Inneren gegenüber Fremden. Um jedoch in der gesellschaftlichen Umgebung eine Spur ihrer Existenz zu hinterlassen und als Adresse der Gesellschaft erreichbar zu sein, bilden Organisationen eine Schauseite aus (Kühl 2011). Sie fungiert als äußere Kontaktstelle für Interessierte, mit der sich die Organisation als Einrichtung mit besonderen Zwecken und Aufgaben, attraktiven Gestaltungsmöglichkeiten und Arbeitsbedingungen und engagierten Mitarbeiter*Innen präsentiert, um für Mitglieder oder Kunden zu werben.

Auch Familien benötigen eine Darstellung, mit der sie sich als Orte der Geborgenheit und Liebe in der gesellschaftlichen Umgebung präsentieren. Was für Organisationen die Website ist, ist für Familien das Familienfoto. Der offizielle Aspekt von Familienportraits als Medien der familialen Außendarstellung war historisch vor allem für die Oberschichten von Bedeutung und ist heute eher bei berühmten und elitären Familien verbreitet. Familienfotos schmücken zwar in der Regel die Innenräume von Familien und ihren Verwandten und Freunden (sowie die Schaufenster von Fotogeschäften), vermitteln jedoch ähnlich den Websites von Organisationen ein geschöntes Familienbild, in dem Konflikte und Probleme ausgespart sind. Ein weiteres, aktuelles Beispiel für diese Schauseite von Familien sind Dankeskarten nach Geburt mit von Fotos des Babys und der Eltern, die von der frischgebackenen Familie an Familie, Freunde und Kolleg:Innen verschickt werden. Auch hier wird ein friedlicher und schöner Ausschnitt des Familienlebens vermittelt, der von den Strapazen der Geburt, schlaflosen Nächte und anderen Belastungen absieht.

Eine weitere Ausdrucksform der Schauseite von Familien ist Wertekommunikation. Organisationen definieren sich in ihrer öffentlichen Darstellung in der Regel über konkrete Werte und bezeichnen sich als innovativ, familienfreundlich, demokratisch etc.. Diese Werte symbolisieren eine Einheitlichkeit der Werteorientierungen der Organisationsmitglieder. Auf ganz ähnliche Weise praktizieren Familien diese Art von Wertekommunikation, wenn Sätze wie „In unserer Familie ist man füreinander da“, „Wir achten auf einen respektvollen Umgang miteinander“, „Bildung steht für uns an oberster Stelle“ usw. von Eltern geäußert werden. Auch hier wird die Einheit gemeinsamer Werteorientierungen der Familienangehörigen vermittelt, die von faktischen Widersprüchen und Wertkonflikten zwischen den Familienmitgliedern abstrahiert.


III. Mit der schauseitigen Kommunikation von Familien professionell umgehen
Die schauseitige Kommunikation von Familien in Form von schönen Porträts oder Werte-kommunikation ist demnach verbreitet und etwas völlig Normales. Sozialarbeiter:Innen die, etwa im Rahmen einer Sozialpädaogischen Familienhilfe in der Kinder- und Jugendhilfe, den Binnenraum von Familien betreten, sind in ihrer alltäglichen Arbeit ganz regelmäßig mit einem Widerschein schauseitiger Familienkommunikation konfrontiert. Eltern betonen in Beratungsgesprächen gerne „Uns geht es gut“, „Wir haben keine Probleme“, „Wir tun alles für unser Kind“, „Unserem Kind fehlt es an nichts bei uns“ etc.. Wie geht man als Praktiker mit diesen geschönten, schauseitigen Selbstbeschreibungen von Familien professionell um? Was also ist zu tun?

Idealtypisch können grob zwei Vorgehensweisen des Umgangs von Praktiker:Innen mit der Schauseite von Familien unterschieden werden. Professionelle können erstens die Schauseite von Familien zu ernst nehmen. Die Wertekommunikation und Selbstdarstellung von Familien gerät dann oftmals implizit zu einem Beurteilungsmaßstab, der mit der tatsächlich beobachteten Familienrealität verglichen wird. Im Ergebnis wird man dabei in aller Regel eine mehr oder minder sehr große Diskrepanz feststellen können. Die Praktiker:Innen werden nun geneigt sein, die Familie auf den offensichtlichen Unterschied zwischen geäußertem Anspruch und faktischer Wirklichkeit hinzuweisen. Erkennt die Familie den Unterschied nicht an, weicht ihm aus oder umschifft ihn u.ä., werden Praktiker:Innen zu dem Eindruck gelangen, dass etwas in der Familie nicht stimmt, tatsächliche Informationen zurückgehalten oder faktische Probleme verheimlicht werden. Die Praktiker:Innen haben sich damit in die Misstrauensspirale der Verdachtsarbeit (Franzheld 2017a, 2017b) katapultiert und haben sich damit ein gutes Stück aus der Nähe der Familie und ihres Alltags entfernt.


Professonelle könnten zweitens die schauseitige Kommunikation als etwas Gewöhnliches, aber für die tatsächliche Arbeit mit der Familie und ihren Themen Vernachlässigbares behandeln. Praktiker:Innen wollen ja ohnehin tiefer einsteigen und nicht an der geschönten Oberflächlichkeit familiärer Selbstdarstellung verharren. Der Professionelle kann die schauseitige Kommunikation getrost links liegen und sich stattdessen an die Familien anschmiegen, um diese mit ehrlichem Interesse und offenem Ohr zu begleiten und zu unterstützen.

Die eingangs erwähnte Familie wurde deshalb nicht mit der Nase auf die Diskrepanz zwischen ihrer Selbstdarstellung von gemeinsamem Abendessen und dem faktischen Essen des Sohnes vor dem Fernseher gestupst. Ein Termin beim Kinderarzt wurde stattdessen genutzt, die Kindesmutter darüber informieren zu lassen, dass Essen vor dem Fernseher medizinisch ausdrücklich entwicklungshemmend ist. Anschließend wurde den Kindeseltern das Angebot unterbreitet, einmal in der Woche gemeinsam Abend zu essen und die Eltern bei der Betreuung des Sohnes zu unterstützen. Die Eltern konnten sich darauf einlassen und man hat mittlerweile zweimal gemeinsam Abendgegessen. Für dieses Angebot ist dabei nicht relevant wie häufig die Eltern tatsächlich mit ihrem Sohn gemeinsam Abendessen (wahrscheinlich praktisch nie). Das Angebot folgt vielmehr der Interventionsidee, erstens über ein gemeinsames Modellhandeln erste Erfahrungen mit einer neuen Erziehungspraxis zu machen sowie zweitens Anreize für die Eltern zu setzen, dies selbst auszuprobieren und damit eine neue familiäre Praxis zu etablieren (Allert et al. 1994). Ob sich diese neue Familienpraxis dauerhaft ausbildet, ist offen.

Literatur

Allert, Tilman (1994): Familie, Milieu und sozialpädagogische Intervention. Möglichkeiten, Handlungssätze und Probleme sozialpädagogischer Familienhilfe. Münster: Votum-Verl.

Bohler, Karl Friedrich Bohler & Franzheld, Tobias (2015): Problematische Professionalität der Sozialen Arbeit im Kinderschutz. In: Roland Becker-Lenz, Stefan Busse, Gudrun Ehlert und Silke Müller-Hermann (Hg.): Bedrohte Professionalität. Einschränkungen und aktuelle Herausforderungen für die Soziale Arbeit. Wiesbaden: Springer VS (Edition Professions- und Professionalisierungsforschung, 3), S. 189–213.

Franzheld, Tobias (2017a): Verdachtsarbeit im Kinderschutz. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden

Franzheld, Tobias (2017b): Verdachtsarbeit im Kinderschutz. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.

Gahleitner, Silke Birgitta (2017): Soziale Arbeit als Beziehungsprofession. Bindung, Beziehung und Einbettung professionell ermöglichen. 1. Auflage. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.

Hildenbrand, Bruno (2017): »Verstehen braucht Verständigung -Verständigung braucht Rahmung. Am Beispiel des Kinderschutzes«, Sozialer Sinn 18: 231-254

Luhmann, Niklas (1974): Funktionen und Folgen formaler Organisation. 1. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot (Schriftenreihe der Hochschule Speyer, 20).

Luhmann, Niklas (1975): Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Anwendungen der Systemtheorie. In: Niklas Luhmann (Hg.): Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Opladen: VS Verl. für Sozialwiss, S. 9–20.

Kühl, Stefan (2011): Organisationen. Eine sehr kurze Einführung. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Wiesbaden.

Kühl, Stefan (2012): Zum Verhältnis von Macht und Hierarchie in Organisationen. In: Bianca Knoblach, Torsten Oltmanns, Ivo Hajnal und Dietmar Fink (Hg.): Macht in Unternehmen. Der vergessene Faktor: Gabler Verlag, S. 165–183.

Kühl, Stefan (2012): Zwangsorganisationen. In: Maja Apelt und Veronika Tacke (Hg.): Handbuch Organisationstypen. Wiesbaden: Springer VS, S. 345–358.

Kühl, Stefan (2014): Gruppen, Organisationen, Familien und Bewegungen. Zur Soziologie mitgliedschaftsbasierter Systeme zwischen Interaktion und Gesellschaft. In: Zeitschrift für Soziologie (Sonderheft), S. 65–85.

Kühl, Stefan (2019): Familien und Organisationen: Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Verknüpfungen. In: Heiko Kleve und Tobias Köllner (Hg.): Soziologie der Unternehmerfamilie. Grundlagen, Entwicklungslinien, Perspektiven, S. 99–113.

Müller, Burkhard (2012): Professionalität. In: Werner Thole (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag, S. 955–974.

Wetzel, Ralf; Dievernich, Frank (2014) – Der Gott des Gemetzels. Wie Organisationen und Familien auf modernen Gleichheitsdruck reagieren. KONTEXT 45,2, S. 126 – 154

Hinterlasse einen Kommentar