Tatort und die Würde des Subjekts nach Niklas Luhmann

„Je deutlicher man die Eigenart von Kommunikation als Modus der Herstellung von Einheit erkennt, desto zwingender wird eine systemtheoretische Trennung von Bewusstseinssystemen und kommunikativen Systemen. Zwischen Bewusstsein und Kommunikation gibt es natürlich tiefgreifende Abhängigkeiten. Dies sind aber nur, wenn man so sagen darf, ökologische Beziehungen. Der Fortgang von Gedanke zu Gedanken und der Fortgang von Kommunikation zu Kommunikation laufen nicht im selben System ab. Die Anschlussfähigkeit ist ganz unterschiedlich geregelt. Das, was man Subjekt nennt, kann nie Teil des sozialen Systems sein. Und ist nicht gerade diese Exklusion der Stolz des Subjekts gewesen, auch wenn es mit sich selbst unzufrieden ist, sich dauernd über Entfremdung beklagt und sich durch Kritik seiner eigenen Vernunft zensiert?“ (Luhmann 1986: 170)

In Niklas Luhmanns Systemtheorie ist die operative Geschlossenheit selbstreferenzieller Systeme des Lebens, der Kommunikation und des Bewusstseins ein zentrales Theorem. Die Tatort-Folge „Der sanfte Tod“ (Erstausstrahlung 07.12.14) enthält einen bemerkenswerten Dialog zwischen Hauptkommissarin Lindholm und der unerfahrenen Kommissarin Bär, der die operative Autonomie sozialer und psychischer Systeme, deren strukturelle Kopplungsmechanismen und ihren Einfluss auf Kommunikationsverläufe exemplifiziert. Lindholm und Bär versuchen sich über die Glaubwürdigkeit des Wurstmagnaten Landmann zu verständigen. Es kommt jedoch zu kommunikativen Irritationen, die zur Thematisierung der Bedingungen von Kommunikation führen.

Der ausführliche Dialog, während die beiden nebeneinander herlaufen:

Lindholm: „Beim ersten Anschlag war alles angeblich unbewacht und heute landet der     Wagen im Graben und Zack ist die Leibgarde da. Was glauben Sie? Konnte vor dem Anschlag immer jeder ungehindert auf’s Grundstück kommen?  Oder hatte die Wache nur gestern frei?“
Bär: (Schweigt und sieht weg)
Lindholm: „Was denken Sie gerade?“
Bär: (Schweigt und sieht weg)
Lindholm: „Denken Sie überhaupt etwas?“
Bär: (Bleibt stehen und dreht sich zu Lindholm) „Moment! Wenn man nichts sagt, heißt das nicht, dass man nichts denkt. Und keiner muss sagen, was er denkt, wenn es keiner hören will und jeder einen sowieso für eine Witzfigur hält.“

Kommissarin Bär weist Kommissarin Lindholm darauf hin, dass sie darin irrt, von Nicht-Sprechen auf Nicht-Denken zu schließen. Damit beruft sie sich auf das voneinander unabhängige Operieren von Bewusstseinssystem und Kommunikation. Das Bewusstseinssystem ist an Kommunikation beteiligt, aber es ist nicht damit kongruent. Das Denken ist für das Sprechen Umwelt und die soziale Interaktion ist für das Bewusstseinssystem Umwelt. Die Abfolge der Gedanken und der Verlauf der Kommunikation laufen auf unterschiedlichen Kanälen jeweils autonom ab. Menschen sind als denkende Wesen in der Lage zu spreche bzw. zuzuhören und gleichzeitig ihr Sprechen denkend zu beobachten oder gar an etwas Anderes zu denken. Das erleben wir jeden Tag in der Kommunikation. Während wir mit anderen kommunizieren, sind wir innerlich mit unterschiedlicher Dauer immer wieder mit etwas anderem beschäftigt (an den Einkauf abend denken, Müdigkeit fühlen usw.). „Die Menschen denken mit ihren eigenen Köpfen und sind ständig mit irgendwelchen Themen beschäftigt“, hat Niklas Luhmann einmal gesagt. Dies macht Kommissarin Bär in ihrer ersten Erwiderung geltend. Sie sagt im Prinzip: „Ich spreche nicht. Aber von meinen Gedanken wissen sie trotzdem nichts.“

In der sozialen Kommunikation kommen Personen in der Regel ohne die explizite Thematisierung und Erfragung der Gedanken aus. Dabei ist es hilfreich, dass maximale Aufmerksamkeit als Gesprächspartner nicht immer gefordert ist oder der Sprechende so mit dem Sprechen beschäftigt ist, dass er leichtes Abschweifen seines Zuhörers nicht bemerkt oder es toleriert. Es soll auch sprechende Menschen, denen egal ist, ob ihr Gesprächspartner zuhört. Erst wenn es zu schwerwiegenden Irritationen in der Kommunikation kommt, wird auf Gedanken verrechnet. „Woran denkst Du?“ oder „Wo bist Du?“, wird dann häufig gefragt. Hier wird das Denken zum Thema der Kommunikation, weil das unsichtbare Oszillieren der Personen zwischen Sprechen und Denken stockt und die soziale Interaktion nach Störungsbehebung drängt. Entweder werden die störenden Gedanken eines Beteiligten als neues Thema in die soziale Kommunikation eingeführt oder die Gesprächsteilnehmer versichern sich kommunikativ, dass man einander zuhört und blendet anderes aus.

Im Falle des angesprochenen Dialogs erklärt Kommissarin Bär der Kollegin ihr vorheriges Schweigen. Sie sagt: „Und keiner muss sagen, was er denkt, wenn es keiner hören will und jeder einen sowieso für eine Witzfigur hält.“ Die Kommissarin fertigt hiermit eine Beschreibung über ihren Eindruck davon an, wie Mitmenschen sie als Person erleben und bewerten. Kommissarin Bär teilt mit, dass sie glaubt, dass andere Menschen ihre Gedanken uninteressant finden und sie nicht ernst nehmen. Diese Äußerungen liefern mittels Kommunikation Anhaltspunkte (!) über das Selbstkonzept (Bewusstsein) von Kommissarin Bär sowie über die Kriterien mit denen sie innerlich Sprechen und Nicht-Sprechen in konkreten Situationen prämiert. Die Frage von Kommissarin Lindholm „Denken Sie überhaupt etwas?“ ist zweiffelos eine Provokation. Bär könnte jedoch sachlich sagen: „Selbstverständlich. Ich glaube nur nicht, dass sie es hören wollen.“ Stattdessen lässt sie wissen, dass sie glaubt, dass Kommissarin Bär wie alle anderen sie geringschätze („Witzfigur“) und ihre Gedanken nicht hören wolle (Desinteresse) und dass sie unter diesen Voraussetzungen vorziehe, nicht zu sprechen. Die Erklärungen von Kommissarin Bär sind kommunikative Selbstbeschreibungen intrapsychischer Sichtweisen und Motivationen. Sie sind jedoch nicht das Innere der Kommissarin selbst.

Der Dialog exemplifiziert wie Kommunikation Einfluss auf die Selbstwahrnehmung und Überzeugungen von Individuen nehmen kann, während persönliche Überzeugungen und die antizipierte Fremdwahrnehmung Themen, Form und Verlauf von Kommunikation beeinflussen können. Trotz dieser wechselseitigen Beeinflussung, vollzieht sich der soziale Kontakt zwischen Interaktionsteilnehmern ausschließlich mittels verbaler und nonverbaler Kommunikation, während die Gedanken, Gefühle, Überzeugungen und Wahrnehmungen im Inneren der Beteiligten prozessiert werden. Gerade auf der Grundlage dieser operativen Getrenntheit von Kommunikation und Bewusstsein vermag sich Kommissarin Bär gegenüber der konkreten Herabsetzsetzung durch ihre Kollegin (und anderen möglichen Erniedrigungen) als autonomes, denkendes Individuum zu behaupten und ihre Würde zu bewahren. Und zwar unabhängig davon, ob sie sich ihrer eigenständigen Gedanken rein innerlich vergewissert oder diese im Film kommuniziert.

Bei stark institutionalisierten sozialen Interaktionen, wie etwa beim Bezahlen an der Supermarktkasse, ist der Einfluss des Bewusstseins auf die Kommunikation sicherlich weniger relevant. Je persönlicher und intimer Beziehungen und entsprechend Kommunikation jedoch sind, desto stärker ist das Bewusstsein (Gefühle, Gedanken, Körperempfinden, Überzeugungen, Selbstkonzept) der Beteiligten in die Kommunikation eingebunden. Der Dialog zwischen Lindholm und Bär selbst nimmt eine überraschende Wende und endet mit maximaler Irritation:

Lindholm: „Ich halte Sie nicht dafür. Also was denken Sie?“
Bär: „Es gibt keine Realität, das denke ich.“

Es wäre sehr spannend, den weiteren Kommunikationsverlauf zu verfolgen. Je nach Kontext hält man eine solche Aussage für interessant (Wissenschaft), verrückt (Psychiatrie) oder provokativ (Kirche). Hielte man die Aussage einfach für falsch, wäre man vielleicht geneigt zu erwidern: „Was reden sie da. Natürlich gibt es eine Realität. Sehen sie sich nur um.“ Aber selbst wenn Kommissarin Bär ihren Irrtum einsähe und kommunikativ zugäbe, würden dabei Bewusstsein und Kommunikation niemals zur Deckung gelangen. Und zwar wegen der „Bewusstseinslage eines Subjekts, das in sich selbst die Möglichkeit sieht, anderer Meinung zu sein, aber dies nicht für sich selbst und für andere kommunizieren kann.“ (Luhmann 1986: 166)

Literatur

Luhmann, Niklas (1986/2008): Intersubjektivität oder Kommunikation: Unterschiedliche Ausgangspunkte soziologischer Theoriebildung. In: Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. Wiesbaden, S. 162-179

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